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19.01.2002 Vor 100 Jahren starb der Richter und Dichter Ernst Wichert in Berlin

© Das Ostpreußenblatt / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 19. Januar 2002


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Vor 100 Jahren starb der Richter und Dichter Ernst Wichert in Berlin
von Silke Osman

Herr Kammergerichtsrat Wichert ist ein freundlicher Mensch, etwa Ausgang der Fünfzig. Ein mittelgroßer, hagerer Mann mit einem primitiv gehaltenen, grauen Vollbart, der sich in zwei Zipfel teilt. Ewig im offenen Rock, ewig den Kneifer mit der schwarzen Schnur auf der Nase, ein Bild sehr verständiger, etwas nüchterner Bürgerlichkeit und vernünftigen, grauen Beamtentums ...“ Diese zunächst freundlich anmutenden Zeilen schrieb ein Mann, der später für seine Boshaftigkeit berühmt-berüchtigt werden sollte: Alfred Kerr. Der Kritiker, mit dem Hermann Sudermann einen ganz besonderen Zwist auszufechten hatte, verfaßte von 1895 bis 1900 für die „Breslauer Zeitung“ seine „Briefe aus der Reichshauptstadt“. Am 3. Februar 1895 liest man da weiter über den „Herrn Kammergerichtsrat Wichert“: „In zweiter Reihe kommt seine andere Eigentümlichkeit: er ist ein deutscher Dichter. Er schreibt Romane, er schreibt Stücke; er schreibt lustige Stücke, er schreibt traurige Stücke, er schreibt lange und kurze Stücke, er schreibt gute und schlechte Stücke. An die letzte Art hat er sich am konsequentesten gehalten.“ - Kerr pur!

Auch Theodor Fontane, der als Theaterkritiker für die „Vossische Zeitung“ arbeitete, stand den Stücken Wicherts kritisch gegenüber. Nur bei dem Lustspiel „Ein Schritt vom Wege“ aus dem Jahr 1870 rühmte er den „lachenden Glanz des Ganzen“. Ja, er ging sogar so weit, daß er in seiner Novelle „Effi Briest“ Ernst Wichert ein literarisches Denkmal setzte. So läßt er Crampas, der mit Effi eine Beziehung aufgenommen hat, eine Liebhaberaufführung von „Ein Schritt vom Wege“ veranstalten, in der Effi eine Hauptrolle spielt. Nach der erfolgreichen Aufführung lobt Instetten, Effis Gatte: „Ich habe mich amüsiert über das hübsche Stück. Und denke dir, der Dichter ist ein Kammergerichtsrat, eigentlich kaum zu glauben. Und noch dazu aus Königsberg ...“

Das Licht dieser Welt hat Ernst Wichert - wohlgemerkt der mit dem einfachen „i“ - am 11. März 1831 in Insterburg erblickt, wo der Vater Assessor beim Oberlandesgericht war. „Die Wichert (auch Weichardt, Weigert, Wichart, Wiechert = Weichherz) stammen aus dem preußischen Städtchen Mühlhausen, welches im XIV. Jahrhundert, wenn ich nicht irre, von Thüringen begründet ist“, schreibt Wichert in seiner Autobiographie „Richter und Dichter“ (1899). „Der Name soll in dem dortigen Mühlhausen noch vertreten sein. Ein gelehrter Vetter, dem diese Dinge interessanter sind, als mir, hat sich viel Mühe gegeben, aus Kirchenbüchern und anderen Urkunden eine Namenreihe aufzustellen, die ziemlich weit zurückreicht, aber meines Wissens keine Persönlichkeit von irgendwie individueller Bedeutung enthält.“

„Mir, dem Juristen“, so Wichert weiter, „könnte es vielleicht Bedeutung haben, daß der nachweisbare Stammvater Hans Weichardt gegen Ende des XVI. Jahrhunderts Schultz (also Richter) von Niklauken, einem Dorf bei Mühlhausen, und dessen Sohn Kaspar, Mälzenbräuer in Mühlhausen (gest. 1682), zuletzt judex emeritus daselbst gewesen ist. Sein Sohn Martin, ebenfalls Mälzenbräuer, hatte mehrere Söhne. Der eine davon, Johann, getauft 1693, ging als Bäckermeister nach Königsberg und ist dort in die Hauptrolle eingetragen worden. Von ihm leite ich meine Abstammung her. Ein anderer Sohn, namens Michael, Stadtschreiber, Postverwalter und Königlicher Accisseneinnehmer in Mühlhausen, ist der Stammvater der 1804 geadelten Linie.“

„Mein Vater wollte übrigens viel höher hinaus“, fährt Wichert fort. „Er scherzte mitunter, unser Urahn sei kein geringerer als der erste, der auf den Mauern von Jerusalem gestanden habe. Der Ritter, von welchem diese Heldentat aus dem ersten Kreuzzuge berichtet wird, hieß nämlich Wichart ...“

Durch die häufigen Versetzungen des Vaters gelangte der junge Ernst zunächst nach Königsberg, wo er die Schule besucht, dann nach Pillau (1839), wo sich ihm ein ganz neues Leben auftut. Das bunte Treiben in der Hafenstadt fasziniert den Jungen. Kein Wunder, daß er später Seemann werden wollte. In der Schule war es der Zeichenlehrer, der ihm Besonderes mit auf den Weg gab. Er hatte „eine vortreffliche Art, uns vor allem sehen zu lehren“. „Daraus hat sich dann bei mir eine sehr starke Neigung entwickelt, nach der Natur zu zeichnen. Bei allen Ferienausflügen, bis in die letzte Zeit, habe ich mein Skizzenbuch in der Tasche mitgetragen und mit leidenschaftlichem Eifer alles zu Papier gebracht, was mir des Behaltens wert und zu solcher Aufnahme geeignet schien. Durch diese langjährige Übung hat sich auch mein Formengedächtnis scharf entwickelt, so daß ich imstande gewesen bin, mir ein Landschaftsbild im ganzen und in seinen Einzelheiten vorzustellen.“ Auch während seiner Tätigkeit als Richter hat sich Wichert „die Stunden gekürzt, ohne an Aufmerksamkeit für die Verhandlungen irgendwie etwas einzubüßen“ und gezeichnet. Ähnlich seinem Landsmann E. T. A. Hoff- mann, der während der Sitzungen allerdings bissige Karikaturen zeichnete. - Ein weiteres Erlebnis prägte den jungen Ernst Wichert während des Aufenthalts in Pillau. Gemeinsam mit dem Lehrer Born wanderte der damals Elfjährige zu Fuß nach Danzig und von dort nach Marienburg und Elbing. „Die in Danzig und Marienburg gewonnenen Eindrücke, allerdings wiederholt aufgefrischt, wirkten noch stark nach, als ich vierzig Jahre später meinen Roman ,Heinrich von Plauen‘ schrieb.“

Anfang 1843 ging es dann zurück nach Königsberg, wo der Vater zum Oberlandesgerichtsrat ernannt wurde. Dort besuchte Wichert das Altstädtische Gymnasium und bestand 1850 das Abitur. An der Albertina studierte er Jura, beschäftigte sich nebenbei jedoch auch mit Geschichte und Literatur, war er doch in einem musisch interessierten Elternhaus aufgewachsen. Der Vater Ernst verfaßte selbst Gedichte, Übersetzungen und dramatische Fragmente. „Ich hatte den Eindruck“, so der Sohn später, „daß diese Poeme zu künstlich geformt und nicht ursprünglich genug empfunden seien, daß die ernsten meist an zu starkem rhetorischem Pathos, die heiteren aber an übertriebener Komik litten.“ Die Mutter Luise konnte herrliche Geschichten erzählen und zu den aus den Bilderbogen ausgeschnittenen Theaterfiguren Stücke erfinden. Sie bastelte abenteuerliche Kulissen, und bald versuchten die Kinder selbst Theater zu spielen.

Erste Verse Wicherts entstanden 1848; die „Freiheitslieder“ wurden in den „Baltischen Blättern“ veröffentlicht. Immer fand der Jurist, der von 1860 bis 1863 als Kreisrichter in Prökuls im Memelland wirkte und anschließend 25 Jahre lang als Stadt-, später als Oberlandesgerichtsrat in Königsberg tätig war, die Zeit, sich der Literatur und dem Theater zu widmen. Selbst als Theaterkritiker für die Hartungsche Zeitung hat er gearbeitet. 1878 wurde er zum Kammergerichtsrat nach Berlin gerufen, wo er in die Fußstapfen seines berühmten Landsmannes E. T. A. Hoffmann trat.

Ernst Wichert ist ein sehr produktiver Dichter gewesen, wenn auch die meisten seiner 18 zum Teil mehrbändigen Romane, seiner mehr als 60 Novellen und Erzählungen, seiner Lustspiele und der historischen Schauspiele wie „Unser General York“ aus dem Jahr 1858 heute nicht mehr bekannt sind. Einige seiner Stücke aber gehörten damals auf den Spielplan aller großen Häuser, vom Berliner Hoftheater bis zur Wiener Burg.

Noch heute gern gelesen aber wird die Novellensammlung „Litauische Geschichten“ (1871- 1896). Faszinierend genau hat Ernst Wichert das Land an der Memel beobachtet und geschildert - heute eine nahezu unerschöpfliche Quelle über Lebensart und Lebensweise im 19. Jahrhundert. „Es sind Dorfgeschichten, wie sie damals literarische Mode waren“, erläutert Prof. Dr. Helmut Motekat in seiner „Ostpreußischen Literaturgeschichte“ (München 1977) die „Litauischen Geschichten“ des „Richters und Dichters“ aus Insterburg. „Aber es sind Dorfgeschichten von eigener Art und eigentümlichem Reiz. Der bis dahin unbekannte Nordosten Ostpreußens und seine alteingesessenen litauischen Bewohner wurden durch Wicherts ,Litauische Geschichten‘ für die Literatur des 19. Jahrhunderts entdeckt und einem größeren Publikum bekannt gemacht.“

Sein volkstümlichstes Buch aber war der dreibändige Roman „Heinrich von Plauen“ (1881), „mit dem er so etwas wie den ostpreußischen ,Kampf um Rom‘ schuf“, so Paul Fechter. „Generationen junger Menschen haben dieses Buch vom Kampf und Untergang des Retters der Marienburg verschlungen - mit Recht; trotz allem Romanhaften ist es ein Stück gestalteter deutscher Geschichte, wie wir wenige besitzen.“Interessant in diesem Zusammenhang auch die Schilderung seines Sohnes Paul, daß der Vater „... sein Stück erst klar nach kurzen Aufzeichnungen im Kopf, um es dann im Manuskript in seiner kleinen, deutlichen Schrift fast ohne Streichungen niederzuschreiben, entwarf, so daß es wie aus einem Guß dastand ...“

Den Namen Ernst Wichert aber verbindet man nicht nur mit seiner Doppelbegabung als Jurist und als Dichter. Der Name Ernst Wichert ist auch eng verbunden mit der Gründung des „Allgemeinen deutschen Schriftstellerverbandes“ (1878), dessen Statuten er entwarf, und mit dem Verein „Berliner Presse“, dessen langjähriger Vorsitzender der Ostpreuße war. Auch bemühte er sich um eine Zusammenschluß der deutschen Bühnenautoren, um deren Urheberrechte zu wahren. 1863 gründete Wichert darüber hinaus mit seinem Freund Rudolf Reicke, dem Vater des späteren Berliner Bürgermeisters Georg Reicke, die „Altpreußische Monatsschrift“, noch heute eine wertvolle Quelle für Historiker.

Am 1. April 1896 wird Ernst Wichert in den Ruhestand versetzt; er ist 65 Jahre alt. „Ich war noch kein Arbeitsinvalide“, betont er, „und wollte auch nicht dafür gelten. Gerade noch ein paar Jahre in vollster Freiheit als Schriftsteller tätig sein zu können, war meine Hoffnung.“ Ganze sechs Jahre nur sind dem Ostpreußen vergönnt, sich diesen Traum zu erfüllen. Am 21. Januar 1902, vor nunmehr 100 Jahren, schloß er in Berlin für immer seine Augen. Seine Grabstätte auf dem Alten Zwölf-Apostel-Kirchhof wurde erst 1990 mit Hilfe der Ost- und Westpreußenstiftung in Bayern, der LO-Landesgruppe Bayern und der Heimatkreisgemeinschaft Insterburg wieder instand gesetzt. Der aus Johannisburg stammende Bildhauer und Graphiker Gerhard Wydra schuf anhand alter Fotografien eine Rekonstruktion der Bronzetafel.

In Folge 1 war ein Porträt von Ernst Wichert irrtümlich dem aus Kleinort stammenden Ernst Wiechert zugeordnet.

Ernst Wichert: Richter und Dichter aus Insterburg

Letzte Ruhestätte: Auf dem alten Friedhof der Zwölf-Apostel-Gemeinde in Berlin findet sich die Grabstätte des Dichters, Fotos (2): Archiv Leuchert