25.04.2024

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09.03.02 Alfred Weng erinnert sich an die Flucht aus der angestammten Heimat

© Das Ostpreußenblatt / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 09. März 2002


Auf gepackten Koffern
Alfred Weng erinnert sich an die Flucht aus der angestammten Heimat

Wenn die Russen kommen, dann gehen wir nach Palten, dort finden sie uns nicht.“ Dieses war ein geflügelter Ausspruch meiner Eltern, vor allem als das Grollen der Geschütze von der Ostfront nicht mehr zu überhören war.

Palten, ein kleines Dorf im Ermland. Dort lag, weit abseits von der Straße, versteckt hinter einem Hügel am Waldesrand, der Hof meiner Großeltern, das Elternhaus meiner Mutter. Aber es sollte alles ganz anders kommen, als meine Eltern es sich damals vorgestellt hatten.

Wir in Roggenhausen wurden von den Ereignissen einfach überrollt. Wochenlang zogen Militär und Flüchtlingstrecks durch unser Dorf. In unserem Haus hatten wir kaum noch ein Zimmer für uns zur Verfügung. Auf einmal waren die Sowjets schon in unseren Nachbardörfern Napratten und Knipstein. Nun entschieden meine Eltern für mich, den knapp 15jährigen, ich sollte mich in Palten in Sicherheit bringen. Es mußte alles sehr schnell gehen. Auf einem Rodelschlitten wurden ein paar Sachen verstaut, und ich nahm Abschied von meinen Eltern und meinen vier Geschwistern.

Ein unbeschreibliches Chaos herrschte auf den Straßen, aber das Ziel Palten trieb mich voran. Am dritten Tag war ich endlich da. Auch hier ging alles drunter und drüber. Zuerst konnte ich keinen meiner Verwandten finden, doch dann war ich sehr überrascht, daß sie damit beschäftigt waren, die Fluchtwagen zu beladen. Meine Tanten waren entsetzt über mein Erscheinen, erkannten aber schnell meine Nützlichkeit als Kutscher für einen ihrer Wagen. Am nächsten Morgen, es war Anfang Februar 1945, standen vier vollbepackte Leiterwagen abfahrbereit auf dem Hof. Sechzehn Personen wurden auf die vier Wagen verteilt, auch ein Franzose und ein Ukrainer waren darunter. Schweren Herzens mußten wir nun diesen schönen Bauernhof seinem Schicksal überlassen. Unter dem Kommando meiner Tante Auguste setzte sich unsere kleine Karawane in Bewegung. Ein vereinbartes Treffen mit unseren Peterswalder Verwandten war nicht mehr möglich. Wir wurden vom Sog der Straße erfaßt und fuhren in Richtung Frisches Haff.

Schon am ersten Tag in Hohenfürst bekamen wir unsere Feuertaufe. Sowjetische Tiefflieger stürzten sich auf unseren Treck und beschossen uns mit Bordkanonen. Wir kamen noch einmal davon. Die zerschossenen Fahrzeuge vor uns wurden mit vereinten Kräften in den Graben gekippt, und weiter ging die Fahrt. Jetzt hieß es, rette sich wer kann. Auf den sumpfigen Haffwiesen in Leysuhnen stauten sich Hunderte von Fluchtwagen. Hier mußten wir die ganze Nacht verweilen, ohne auch nur einmal vom Wagen absteigen zu können. Erst am späten Nachmittag konnten wir endlich auf das Haff fahren. Aus Sicherheitsgründen mußten große Abstände eingehalten werden. Immer auf Bombentrichter achtend, ging es nur langsam voran.

Im Morgengrauen sahen wir die Frische Nehrung vor uns und glaubten, nun gerettet zu sein. Doch dann geschah es, der Wagen von Tante Auguste brach ein. Ihr Schwiegervater, 80 Jahre alt und schwergewichtig, konnte das alles nicht mehr begreifen und verlor die Nerven. Er mußte schnell vom Wagen geschafft werden, bevor er im eisigen Wasser versank. Dabei rutschte ich von einer Eisscholle ab und meine Stiefel liefen voll Wasser. Mit unseren verbliebenen zwei Wagen konnten wir jetzt in Narmeln an Land gehen. Im Nehrungswald fanden wir einen Platz zum Ausruhen. Ich war todmüde, legte mich in eine Erdmulde und schlief sofort ein. Als ich aufwachte, waren meine Beine gefühllos, das Wasser in meinen Stiefeln war gefroren. Man schnitt mir die Stiefel auf. Nur eine sofortige Massage meiner Beine konnte das Schlimmste verhindern. Wochenlang hatte ich große Schmerzen und konnte kaum laufen.

Inzwischen hatten wir uns entschlossen, auf diesem Platz in Narmeln das Kriegsende abzuwarten. Unser Franzose und der Ukrainer hatten uns längst verlassen, sie wollten sich alleine durchschlagen, um in ihre Heimat zu kommen. Der nächste Tag war kalt und sonnig. Plötzlich sahen wir sowjetische Tiefflieger von Heiligenbeil kommend, mit Bordkanonen und Bomben, um die sich auf dem Haff befindenden Flüchtlinge zusammenzuschießen. Nur Minuten vergingen, und der Spuk war vorbei. Wir liefen auf das Haff, um den Verletzten zu helfen. Uns bot sich ein unbeschreiblicher Anblick. Den Treck aus Lotterfeld hatte es voll erwischt. Meinem Onkel waren beide Beine abgeschossen worden. Er ist später in einem Lazarett gestorben. Nur drei Tage der Ruhe waren uns vergönnt, dann ließ die Feldgendarmerie den Platz räumen.

Weiter ging es auf der Nehrungstraße in Richtung Kahlberg. Die ganze Nehrung war voller Flüchtlinge, und es gab kein Vorankommen mehr. In Neukrug mußten wir wieder auf das Haff bis nach Bodenwinkel, dort gingen wir endgültig an Land. Stuthof ist mir gut in Erinnerung geblieben; dort erscholl Marsch- musik aus Lautsprechern, dazwischen Durchhalteparolen wie: „Ostpreußen, eure Heimat, ersteht euch einst wieder.“ Dort trafen wir auch Bekannte, die davon berichteten, daß sie meinen Eltern auf dem Haff begegnet waren. Ich schöpfte Hoffnung und machte mich auf die Suche, doch es war hoffnungslos, in diesem Chaos jemanden zu finden. Bedrückt kehrte ich zu meinen Verwandten zurück. Jetzt wußte ich, daß meinen Eltern doch noch die Flucht aus Roggenhausen geglückt war.

Unser nächstes Ziel war Dirschau, wir mußten dort über die Brücke, bevor sie gesprengt wurde. Wir schafften es gerade noch, kurze Zeit später wurde sie zerstört. In der Nähe von Karthaus wurde Tante Auguste beim Absteigen vom Wagen von einem Motorrad erfaßt und brach sich dabei den Arm. In einem Wehrmachtslazarett wurde sie versorgt und bekam einen Gipsverband, der ihr später so manche Unannehmlichkeit ersparte.

Inzwischen waren die Sowjets westlich von Danzig bis zur Ostsee vorgestoßen, und wir befanden uns jetzt im Kessel. Unsere Flucht endete in Lebeno. Wir wurden in der Dorfschule untergebracht. Der Schwiegervater von Tante Auguste mußte ins Krankenhaus nach Neustadt, wo er kurze Zeit später starb und auch beerdigt wurde. Wir waren jetzt noch dreizehn Personen und wurden auf zwei Bauernhöfe verteilt. Die Pferde konnten in einer Scheune untergestellt werden. Wir warteten auf das Ende des Krieges und planten schon die Heimreise. Doch dann kamen deutsche Soldaten und nahmen uns unsere Pferde und die Wagen, um damit Verwundete nach Danzig zu transportieren. Wir sahen sie natürlich nie wieder.

Die Front kam immer näher. In der Nacht gingen wir mit unseren verbliebenen Habseligkeiten zu den kaschubischen Bauern in die Keller, um den Einmarsch der Sowjets abzuwarten. Die ganze Nacht beteten sie den Rosenkranz auf polnisch. So zog die Front über uns hinweg. Als wir den Keller verließen, waren auch noch unsere letzten Sachen verschwunden. Am nächsten Tag kamen die ersten Rotarmisten auf den Hof. Man hörte sie schon von weitem, sie schossen wie wild mit ihren Maschinenpistolen in die Gegend. Unsere „Gastgeber“ konnten sich gut mit ihnen verständigen und, um sich selbst zu retten, schickten sie die Soldaten gleich zu den „Niemcys“.

Tante Hedwig und Trude mußten mit ihnen gehen, angeblich zur Kommandatur, zum Wäschewaschen. Gleich hinter dem Haus fielen sie über die Frauen her; dieses Martyrium dauerte wochenlang. Für die Kaschuben waren wir Deutschen ein wirksames Schutzschild. An Heimfahrt war nicht mehr zu denken. Wir wurden zu allen möglichen Arbeiten herangezogen, zuerst bei den Russen, dann bei den Polen. Ich mußte Brennholz für die Feldküche beschaffen und wurde beauftragt, die Einrichtung der Kirche zu zerstören und zu Brennholz zu machen.

Im Juni 1945 bekamen wir endlich die Genehmigung für die Heimreise. Wir bekamen ein Dokument, und als Fahrkarte galt unsere Arbeitsbescheinigung. Mit der Eisenbahn konnten wir bis Guttstadt fahren. Von dort waren es bis Palten noch 40 Kilometer Fußweg. Auf einer Müllhalde fanden wir zwei alte Betonkarren, auf denen wir unsere beiden Omas transportieren konnten. Nun sahen wir, wie sehr sich unsere Heimat während unserer Abwesenheit verändert hatte; verlassene Gehöfte, zerschossene, unpassierbare Straßen. Überall lag zerstörtes Kriegsgerät herum. Auf dem völlig verwüsteten Hof meines Onkels Leo in Heinrikau übernachteten wir. Es war unheimlich, diese Nacht auf einem verlassenen Bauernhof. Von Unruhe getrieben, machten wir uns schon sehr früh auf den Weg, unser Ziel kam immer näher. Die Spannung war kaum noch zu ertragen; was würde uns dort erwarten?

Unter Aufbietung unserer letzten Kräfte liefen wir weiter mit unseren Karren. In der Abenddämmerung sahen wir eine Hausruine, alles andere war verschwunden. Vom umgebenden Wald und den Pappeln waren nur noch zum Himmel ragende Stumpen übriggeblieben. Erschüttert wendeten wir uns ab und suchten uns im Dorf ein Nachquartier. In dieser Nacht hat keiner ein Auge zugetan; alle fühlten, das war das Ende. Wir wußten nicht, wie es weitergehen sollte.

Im Morgengrauen sind wir rübergegangen. Vorwurfsvoll schaute uns dieses geschundene, fast hundertjährige Haus an mit seinen leeren Fenstern und der zerschossenen Fassade. Welche Tragödie mag sich hier während unserer fünfmonatigen Abwesenheit abgespielt haben. Im Inneren nur Schutt und Trümmer. Für uns stand fest: wir mußten hierbleiben, es war unser Zuhause. Ich ging sogleich daran, die noch vorhandenen Dachpfannen auf einer Stelle zusammenzutragen, um so wenigstens einen Raum bewohnbar zu machen. Der große Kachelherd war wunderbarerweise erhalten, und meine Tanten begannen sofort mit dem Aufräumen. Plötzlich ein Aufschrei von Tante Hedwig. Ich stieg vom Dach herunter, um nachzusehen, was geschehen war. Sie zeigte auf das Fensterbrett, und ich erkannte die Handschrift meiner Mutter. Schon im April war sie hier vorbeigekommen auf dem Weg nach Roggenhausen. Auf diese Weise erfuhr ich, daß mein Vater und meine Schwester von den Russen verschleppt worden waren. Nun gab es für mich kein Halten mehr, ich mußte nach Hause. Ich beeilte mich, das Dach herzu-richten, und am übernächsten Tag machte ich mich auf den Weg.

In Frauendorf machte ich eine kurze Rast im Hause meiner Tante, wo ich noch schnell das Dach reparierte. Am nächsten Tag ging es weiter, und ohne Unterbrechung gelangte ich nach Roggenhausen. Meine Mutter war überwältigt, mich nach fünf Monaten Ungewißheit wiederzusehen. Hoffentlich kommen die anderen auch bald wieder, dachten wir.

Unser Hof hatte den Krieg gut überstanden, war nur völlig ausgeplündert. Wir versuchten zu überleben. Wir Kinder waren täglich unterwegs, um etwas Eßbares in den Trümmern zu suchen. Niemand schützte uns, wir waren vogelfrei. Im Spätsommer erkrankte ich an Typhus und lag wochenlang im Koma. In diese Zeit fiel auch unsere Ausweisung. Im Ok-tober 1945 gingen die ersten Transporte. Ich, inzwischen ein wenig genesen, wurde von meiner Mutter und meinen Geschwistern auf einem kleinen Handwagen gezogen. Nur einige hundert Meter hielt dieses Gefährt, dann brach es zusammen, und wir mußten umkehren.

Die meisten Bewohner hatten das Dorf inzwischen verlassen. Es stand nur noch ein Ausreisetermin im November zur Verfügung. Wir hatten Glück; inzwischen war Schnee gefallen und wir konnten mit dem Schlitten nach Bischdorf zur Bahnstation fahren. Dort wurden wir in eine Scheune getrieben und gründlich ausgeplündert und anschließend in ungereinigte Viehwaggons verladen.

Tagelang dauerte die Fahrt, ohne irgendwelche Versorgung, bis wir in Berlin ankamen. Viele überlebten das nicht. Nach kurzem Lageraufenthalt kamen wir nach Mecklenburg zu einem Bauern. Der wies uns in ein kleines kahles Zimmer. In der Ecke lagen einige Bündel Stroh, in der Mitte stand eine Holzkiste als Tisch. Wir merkten, wie lästig wir ihm waren, und es war für uns ein trostloser Zustand.

Obwohl wir damals die Wahl hatten, weiter in den Westen zu fahren, war dies für uns kein Thema. Wir warteten jeden Tag auf meinen Vater und meine Schwester, und die waren doch bei den Russen. Wir wollten nicht so weit von zu Hause weg, denn diese Vertreibung konnte doch nur ein großer Irrtum sein. Jahrelang haben wir auf „gepackten Koffern“ gesessen.

Über 50 Jahre sind vergangen, ohne daß der Schmerz über den Verlust meiner geliebten Heimat von mir gewichen ist. Meinen Vater und meine Schwester haben wir nie mehr wiedergesehen.

 

Fototext: Palten 1974: Weit abseits der Straße, versteckt hinter einem Hügel, lag der Hof der Großeltern. Dort wollte man Sicherheit finden, „wenn die Russen kommen“. Doch es sollte alles ganz anders kommen, als geplant Foto: privat