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30.03.02 / Nördliches Ostpreußen: Tuberkulose auf dem Vormarsch

© Das Ostpreußenblatt / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 30. März 2002


Nördliches Ostpreußen: Tuberkulose auf dem Vormarsch
Die Seuche grassiert nicht nur im Osten, sondern bedroht auch den Westen
von Dietrich Rohde

Seit der Auflösung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken nimmt die Tuberkulose (Tbc) in dieser Region der Welt besorgniserregend zu. Eine der Hauptursachen ist der dramatische Zusammenbruch des öffentlichen Gesundheitswesens von eine Ausprägung, die man nie zuvor in Friedenszeiten in einem Industrieland erlebt hat. Ein nicht veröffentlichter Aktenvermerk des russischen Innenministeriums aus dem Jahre 1997 enthält die Mitteilung, daß in den drei Jahren bis 2000 die Häufigkeit von Tuberkulose um das 50fache zunehmen werde, die Sterblichkeit um das 70fache und die Kindersterblichkeit um das 90fache. Besonders betroffen ist hiervon die Enklave Nord-Ostpreußen (Oblast Kaliningrad), die hinsichtlich der sozioökonomischen Verhältnisse in das letzte Drittel aller Regionen der Russischen Föderation eingeordnet wird.

In der Sowjetunion konnte unter dem zunehmenden Einsatz von antituberkulös wirksamen Medikamenten bis zum Ende der 80er Jahre ein deutlicher Rückgang der Neuerkrankungen an Tuberkulose und der Rate der an dieser Krankheit Verstorbenen beobachtet werden. Die in den 90er Jahren auf dem Territorium der ehemaligen UdSSR vollzogene Umwandlung von sozialistischen in marktgesteuerte Wirtschaftsysteme hat zu entsprechenden sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen sowie Funktionseinbußen des öffentlichen Gesundheitswesens geführt mit dem Ergebnis einer deutlichen Zunahme der Tuberkulose-Neuerkrankungen.

Zur Verdeutlichung mögen die folgenden statistischen Angaben beitragen. 1990 kamen in der Russischen Föderation 34,19 Neuerkrankte an Tuberkulose auf 100.000 Einwohner. Bereits 1999 erhöhte sich die Zahl auf 91. Zum Vergleich sei darauf hingewiesen, daß in der Bundesrepublik Deutschland "nur" elf Neuerkrankte auf 100.000 Einwohner kommen, wobei ein Drittel dieser Fälle ausländische Patienten sind.

Im Königsberger Gebiet sind diese Werte gemäß den Aussagen der für Gesundheit und Soziales zuständigen Vize-Gouverneurin Galina Jenkowskaja noch deutlich höher als in der übrigen Russischen Föderation. Die Tbc-Erkrankungsrate liegt in der Region um 33,6 Prozent höher als in Rußland, die Zahl der erkrankten Kinder übersteigt die durchschnittliche Anzahl der in Rußland erkrankten um das 4,3fache.

Als wesentliche Ursache für diese überproportionale Zunahme an Erkrankungen sieht Galina Jenkowskaja, daß in den vorhandenen stationären Einrichtungen mit ihren 745 Betten nur 52 Prozent der an Tuberkulose erkrankten und entsprechend registrierten Patienten stationär behandelt werden können. Lediglich 50 Prozent der Planstellen an diesen Einrichtungen sind besetzt. Doch nicht nur für das Personal, sondern auch für die Diagnostik und Therapie auf "normalem Niveau" ist die Finanzausstattung unzureichend. Deswegen liegt die Sterblichkeit an offener Lungentuberkulose im ersten Jahr nach ihrer Erkennung bereits bei 33,8 Prozent. Jeder zweite Kranke wird als nicht geheilt entlassen und infiziert zu Hause weitere Menschen.

Neben den starken finanziellen Defiziten spielen aber auch andere Faktoren eine wesentliche Rolle beim Anstieg dieser international verbreiteten Seuche. In den letzten Jahren wurden in der Russischen Förderation und den übrigen Nachfolgestaaten der So- wjetunion vermehrt Tuberkulosestämme festgestellt, die resistent sind gegen die vorhandenen Antibiotika zur Bekämpfung der Tuberkulose. Verantwortlich für diese Entwicklung ist in erster Linie eine völlig unzureichende Tuberkulosetherapie. Nach den Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) muß eine frisch entdeckte Tuberkulose zunächst wenigstens zwei Monate gleichzeitig mit wenigstens vier verschiedenen Antibiotika und danach vier bis sechs Monate mit zwei verschiedenen Antibiotika regelmäßig behandelt werden. Wenn beispielsweise nur mit einem einzigen Antibiotikum therapiert wird oder aber eine Mehrfach-Therapie diskontinuierlich durchgeführt wird, was leider häufig geschieht, kommt es unweigerlich zu einer Resistenz der Tuberkulosestämme gegen die jeweils eingesetzten Medikamente.

Besonders die Zunahme der antibiotikaresistenten Tuberkulosestämme in Osteuropa sorgt dafür, daß diese Seuche sich unter den gegebenen sozialen und ökonomischen Verhältnissen rasant ausbreitet und hier beginnt ein Problem, das auch die Menschen in der Bundesrepublik Deutschland und Westeuropa nicht kalt lassen kann. Diese medikamentenresistenten Tuberkulosestämme machen an der Grenze nicht halt. Aufgrund der geographischen Nähe hat dieses Problem für die Bundesrepublik eine besondere Relevanz. Dies verdeutlicht die kürzlich erschienene Studie des Deutschen Zentralkomitees zur Bekämpfung der Tuberkulose in Zahlen. Bei den in den UdSSR-Nachfolgestaaten geborenen und derzeit in der Bundesrepublik lebenden Migranten fanden sich Resistenzraten gegenüber jeglichen erstrangigen Medikamenten von 33,5 Prozent und sogenannte Multiresistenzen, das heißt Resistenzen gegen mehrere Medikamente, von 8,5 Prozent. Bei dem erheblichen sozioökonomischen Gefälle zwischen Ost- und Westeuropa ist es nur eine Frage der Zeit, daß diese Problemfälle mit Lungentuberkulose in der Bun- desrepublik zunehmen. Da es sich um eine Infektionskrankheit handelt, breitet sich diese schleichend, aber unaufhaltsam über nationale und regionale Grenzen hinweg aus.

Zur Lösung dieses Problemkomplexes erscheint eine Doppelstrategie notwendig. Auf der einen Seite wird ein umfangreiches Präventionsprogramm zum Schutz der eigenen Bevölkerung benötigt. Hierzu gehört insbesondere, den öffentlichen Gesundheitsdienst in der Bundesrepublik wieder personell und materiell in die Lage zu versetzen, seine seuchenhygienischen Aufgaben voll wahrnehmen zu können. Da sehr viele bundesdeutsche Kommunen bei ihrer Überschuldung am Rande der Insolvenz stehen, muß dies besonders betont werden.

Auf der anderen Seite aber bedarf es einer aktiven Unterstützung durch die Bundesrepublik, die Europäische Union, die WHO und anderer, um Projekte zur Bekämpfung der Tuberkulose in der Russischen Föderation und anderen osteuropäischen Staaten in großem Umfang durchführen zu können. Diese Einsicht haben offensichtlich viele, wenn man sieht, wie viele Einzelinitiativen geplant und angefangen wurden. Leider mangelt es jedoch an erkennbarer Effizienz. So wichtig die medizinische und humanitäre Hilfe im einzelnen ist, so sehr muß hierbei aber bedacht werden, daß diese wie ein Tröpfchen auf dem heißen Stein verdampft, wenn sie nicht eingebunden ist in ein Gesamtprojekt.

Letzteres hat der gemeinnützige Verein für medizinisch-humanitäre Hilfe "Agitas-Circle" am 18. Oktober letzten Jahres der Vize-Gouverneurin Galina Jenkowskaja und dem Leiter der Gesundheitsbehörde Efim Krepak vorgestellt. In allen Punkten wurde vollständige Übereinstimmung erzielt. An dieser Stelle kann das Projekt zur Bekämpfung der Tuberkulose im Oblast Kaliningrad nur grob skizziert werden. Die Erfolge und Erfahrungen vieler Länder in den letzten Jahrzehnten haben gezeigt, daß für eine er- folgreiche Behandlung der Lungentuberkulose drei Säulen gleichzeitig bedacht werden müssen. Dieses sind die Verbesserung der sozioökonomischen Verhältnisse, sprich Wohnverhältnisse, Hygiene, Ernährung etc., ein funktionierendes öffentliches Gesundheitswesen sowie eine international anerkannte und durchgeführte medizinische Versorgung in Diagnostik und Therapie.

Allem Anschein nach berück-sichtigen die derzeit in der Russischen Föderation durchgeführten Projekte nicht im vollen Umfang diese Forderung, was die Frage nach der Sinnhaftigkeit dieser Investitionen stellen läßt. Deswegen einige Anmerkungen zu den oben genannten Notwendigkeiten.

Bevor es in Deutschland Antibiotika zur Bekämpfung der Tuberkulose gab, wurde diese Erkrankung im wesentlichen behandelt durch Liegekuren in abseits gelegenen Sanatorien in schöner Landschaft bei guter kalorienreicher Ernährung. Wer aber die Verhältnisse im nördlichen Ostpreußen näher kennt, weiß, daß die sozialen Verhältnisse von vielen dort lebenden Menschen miserabel sind. Über 50 Prozent leben unterhalb der Armutsgrenze, die von der Regierung bei rund 40 Euro pro Monat festgelegt worden ist. Bei den kontinuierlich steigenden Preisen kann man hierfür nicht einmal die Monatsmiete für eine bescheidene Unterkunft in einem Plattenbau bezahlen. Da aber das Monatsgehalt beispielsweise einer Oberärztin in der Tuberkuloseklinik in Kaliningrad mit 1.200 Rubel, rund 50 Euro, nicht wesentlich über der Armutsgrenze liegt, kann man davon ausgehen, daß viele Berufstätige allein von ihrem Monatsgehalt nicht leben können. Dies hat natürlich zur Folge, daß jeder versucht, so vielen Nebenbeschäftigungen wie auch immer möglich nachzugehen beziehungsweise mit Naturalien aller Art im Tauschgeschäft das Lebensnotwendige für sich zu bekommen.

Auf der anderen Seite ist es in der Russischen Föderation heute immer noch üblich, daß im wesentlichen die Angehörigen die stationär zu versorgenden Patienten mit Nahrungsmitteln versorgen und auch die Medikamente zur Behandlung auf dem freien Markt kaufen müssen. Und da nach Aussage der WHO 73 Prozent der Tuberkulosekranken arbeitslos und 6,4 Prozent nicht seßhaft sind, kann man sich leicht vorstellen, daß eine notwendige und kontinuierlich durchgeführte Therapie nicht durchgeführt wird.

Mit der Auflösung der Sowjetunion 1990 ist auch das strenge und sehr effektive Tbc-Kontrollprogramm beseitigt worden. Das hatte zur Folge, daß es dem eigenen Willen, den persönlichen Beziehungen und der Bereitschaft beziehungsweise Fähigkeit zur finanziellen Selbstbeteiligung oblag, ob eine Untersuchung und Therapie auch wirklich durchgeführt wurde. Erst nachdem die oben genannten Auswirkungen eingetreten waren und über Jahre diskutiert worden war, konnte Präsident Wladimir Putin am 6. Juni letzten Jahres ein föderales Gesetz "über die Prävention der Verbreitung der Tuberkulose in der Russischen Föderation" unterzeichnen, durch welches wiederum Pflichten für den an Tuberkulose Erkrankten, aber auch für den Staat gesetzlich festgelegt wurden. Hiermit ist der Staat wiederum verpflichtet, sich grundsätzlich an der Bekämpfung der Tuberkulose zu beteiligen und ein öffentliches Gesundheitswesen wieder zu finanzieren. Ob und in welcher Intensität dies geschehen wird, wird die Zukunft zeigen. Dennoch ist dieses ein Fortschritt, weil jetzt wieder auf einer Rechtsgrundlage eine systematische Vorgehensweise möglich ist.

Der bauliche Zustand der beiden Tuberkulosekliniken der Pregelmetro- pole und die sanitären Einrichtungen entsprechen in keiner Weise den hygienischen Anforderungen zur Bekämpfung von Infektionskrankheiten. Eine ramponierte Toilette und zwei Waschbecken für 40 kranke Kinder sind nur ein Beispiel als Beleg für diese Aussage. Das einzige Laboratorium für die Tuberkulosebakteriologie ist nach einer langen Bauphase wieder funktionsbereit. Die Einrichtungsgegenstände sind jedoch so kümmerlich, daß eine ausreichende Diagnostik nur in beschränktester Weise möglich ist. Wegen der vorhandenen Mikroskope von musealem Charakter hat Agitas-Circle das erste binokulare Leitzmikroskop kürzlich als Geschenk eingebracht. Vor Freude standen den Ärztinnen die Tränen in den Augen. Auf diesem Sektor muß noch sehr viel investiert werden, um überhaupt eine so ausreichende Diagnostik durchführen zu können, daß anschließend eine gezielte Therapie möglich ist.

Zur Lösung dieser Probleme gehören aber noch weitere begleitende Aktivitäten. Hierzu zählt auch eine umfangreiche und kontinuierlich durchgeführte Öffentlichkeitsarbeit unter Einbindung aller Medien, Schulen etc. Da die Infektionskrankheit Tuberkulose nicht nur eine Erkrankung der Asozialen - wie es die Russen immer wieder behaupten - ist, sondern eine Erkrankung, die auf jeden Bürger in jeder sozialen Schicht übertragen werden kann, sind Ratschläge zum richtigen Verhalten für Gesunde und Kranke sicher notwendig. Da die Gesellschaft für technische Zusammenarbeit (GTZ) vor Ort auf diesem Felde tätig sein möchte, wird sie mit ihrer intakten Infrastruktur hier sicherlich einen wertvollen Beitrag leisten können. Auch könnte in diesen Einrichtungen die von vielen als notwendig anerkannte Schulung und Fortbildung von Ärztinnen und Assistenzpersonal durchgeführt werden. Diese sowie weitere Probleme und Aufgaben sind zu lösen, um wirklich einen erfolgreichen Kampf gegen die Aus- breitung der Lungentuberkulose im Königsberger Gebiet bestehen zu können.

Auf den ersten Blick scheint dieses Unterfangen hoffnungslos zu sein. Nachdem jedoch die Weltgesundheitsbehörde mit ihrem Büro in Moskau in Zusammenarbeit mit Schweden sich am Aufbau der bakteriologischen Diagnostik beteiligen will, nachdem jetzt eine Rechtsgrundlage zur Bekämpfung der Lungentuberkulose in der Russischen Föderation vorhanden ist und nachdem viele Organisationen im medizinisch-humanitären Bereich in der Bundesrepublik bereit sind, hier einen Beitrag zu leisten, wird Agitas-Circle am 24. April eine Konferenz in Königsberg durchführen, zu der alle oben genannten und weitere Organisationen eingeladen werden. Das Ziel dieser Konferenz ist, festzustellen, wer welche Aufgaben übernimmt, durchführt und bezahlt und wie das Ganze koordiniert werden kann.

Für die Zeit danach plant Agitas-Circle, ein Pilotprojekt in Gumbinnen (Guzew) durchzuführen. Hierzu gehört auch, daß die Erkrankten täglich unter Aufsicht ihre Medikamente einnehmen. Um eine entsprechende Motivation zu haben, erhalten sie danach eine warme Mahlzeit, Tageszusatzbedarf an Nahrungsmitteln und gegebenenfalls Kleidung und ähnliches aus Mitteln der humanitären Hilfsorganisationen. Da der Verein vor Ort eine funktionierende Geschäftsstelle hat, ist sichergestellt, daß die eingegangenen Sach- und Geldspenden weitestgehend zielorientiert eingesetzt werden. Die Spendenaktion "Tbc-Hilfe für Königsberg" über den Agitas Circle e. V. - gemeinnütziger Verein medizinisch-humanitärer Hilfen - hat das Vorantreiben dieses Projektes bisher leisten können. Für die Umsetzung bedarf es jedoch weiterer umfangreicher Unterstützung.