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13.04.02 / Gedanken zur Zeit: Der liberale Geist der Zeit

© Das Ostpreußenblatt / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 13. April 2002


Gedanken zur Zeit: Der liberale Geist der Zeit
von Wilfried Böhm

Der Liberalismus hat gesiegt ... aber seine Toleranz verloren". Diese doppelte Überschrift gab der Feuilleton-Chef der Wochenzeitung Die Zeit, Jens Jesse, am 20. März 2002 dem lesenswerten Aufmacher dieser Zeitung. Erstaunt fragt man sich, ob es sich dabei um einen Rückblick in schmerzender Selbsterkenntnis oder um eine auf Einsicht gestützte, auf die Zukunft bezogene Selbstkritik handelt.

Jesses Klage über die "Politische Korrektheit" überrascht. Wer, wenn nicht Die Zeit, gilt als Zentralorgan dieser "Politischen Korrektheit". Seit Jahrzehnten gleitet sie als deren Flaggschiff mit großem Gefolge durch die glatte See der publizistischen Realität in Deutschland. Will ausgerechnet diese Zeitung jetzt eine "Große Wende" einleiten, wie das aus den Herrschaftsbereichen totalitärer Ideologien bekannt ist? Oder mutiert Die Zeit vom politisch korrekten Protagonisten zum Spitzenfunktionär einer neuen demokratischen Pluralität?

Ist es Zufall, daß sich in derselben Ausgabe der Zeit auf anderthalb Seiten viele Leser unter den Überschriften "Auf Wiedersehen, Genossin Gräfin" und "Wie gut, daß Gedanken nie sterben" von der unlängst verstorbenen Marion Gräfin Dönhoff verabschieden, deren engagiertes Wirken die Zeit über Jahrzehnte geprägt und verkörpert hat? "Unbestechliche Repräsentantin eines liberalen Deutschland" sei sie gewesen, mit ihr sei "ein Stück politischer Liberalismus im Journalismus gegangen", mit ihrem "Vorbild", ihrer "Leitfigur", ihrer "Werteschule" habe sie Generationen geprägt, hieß es darin. Eine Leserin bekennt: "Schon mit 16 las ich ihre Artikel so oft, daß ich sie fast auswendig konnte." Diese Selbstzeugnisse bestätigen, daß Die Zeit das Fühlen und Denken ganzer sich "liberal" empfindender Generationen in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg prägte.

Die Ziele und das Repertoire der Zeit reichten von "antikapitalistischer" Systemkritik in gedanklicher und augenzwinkernder Nähe zu den sogenannten 68ern über die Pflege des Vietnam-Syndroms deutscher Intellektueller bis zum "Verständnis" - nicht "Einverständnis" - für Gewalt "gegen Sachen". Die Verharmlosung der Apo-Szene und die Verächtlichmachung "überkommener Moralvorstellungen" gehörten ebenso dazu wie das Arrangement mit den kommunistischen Systemen. Letzteres brachte insbesondere dem damaligen Chefredakteur Theo Sommer viel Lob aus dem Lager des "real existierenden Sozialismus" ein, wie es von dort gern den "nützlichen Idioten" aus dem liberalen Lager gespendet wurde.

Der angesehene Marxismus-Experte Konrad Löw stellte fest, Sommer habe 1986 "das mit Abstand Dümmste" über die DDR geschrieben. Hatte doch Sommer damals nach einer von den DDR-Machthabern organisierten Zeit-Reise in den real existierenden Sozialismus berichtet, dort sei aus dem Motorverkehr "ein fast reißender Strom geworden - fast wie bei uns". Im übrigen gebe es ziemlich alles in der DDR, sie sei "eine einzige Großbaustelle" und "das Verhältnis zwischen Volk und Obrigkeit in der DDR ist entspannter als je zuvor". Über Honecker bemerkte Sommer: "Die Bürger des anderen deutschen Staates bringen ihm fast so etwas wie stille Verehrung entgegen." Günter Gaus lobte derweil in der Zeit, Honecker habe einen handlungsfähigen Staat aus der DDR gemacht, mit dem auf Dauer zu rechnen sei: "Die DDR wird genau so lange existieren wie die Bundesrepublik," wußte er. Löws Fazit: "Die Zeit wurde zu Honeckers unbezahlbar wertvollem Sprachrohr in der freien Welt."

Gut drei Jahre nach dieser Zeit-Reise haben die Deutschen in der DDR mit ihrer Freiheitsrevolution das SED-Regime verjagt. Plötzlich wußte Die Zeit, daß die DDR "ein Schreckensstaat, ein Wahnsinnsgebilde zugleich" und Honeckers Nachlaß "das makabre Ausmaß an Staatsverderbtheit" war. Einmal mehr stellte das Flaggschiff des deutschen Liberalismus damit seine im wahrsten Sinne des Wortes "zeitbedingte" Kompetenz unter Beweis.

Wenn Jesse jetzt mit seinem Zeit-Beitrag den Toleranzverlust des Liberalismus als Folge "Politischer Korrektheit" beklagt, offenbart er das Dilemma des publizistischen Liberalismus. Ohne Toleranz gibt es keinen Liberalismus. Wo er sich der "Politischen Korrektheit" als Herrschaftsinstrument bedient, verkommt er zum totalitären Liberalismus, der sich auf ein autoritäres Herrschaftssystem stützt.

Nach Jesses Worten neigt die liberale Öffentlichkeit heute dazu, andere als liberale Meinungen gar nicht zuzulassen. Wer kontroverse Positionen formuliere, werde "sogleich Skandalgeschrei vernehmen, wenn nicht gefährlichen Tabubruchs verdächtigt". Es sei "ein verfolgender Liberalismus entstanden, der alles Denken unter Radikalismusverdacht stellt, das nach Alternativen zu den bestehenden Verhältnissen sucht". Der siegreiche Liberalismus habe die "Mentalität eines Staatsschutzes angenommen, der überall Verfassungsfeinde" sehe. Staatsraison sei zum Kern des Liberalismus geworden, "nachdem er den Staat erfolgreich gekapert hat".

In seiner Abrechnung mit dem liberalen Zeitgeist und seinen Machern vergleicht Jesse den "hysterischen Antikommunismus" des Kalten Krieges mit einem "hysterischen Antifaschismus": "Als Faschist gilt heutzutage jemand schneller, als er blinzeln kann." Rufmord sei zur gängigen Münze in journalistischen Kampagnen geworden. Jesse hält auch Ermahnungen bereit: "Wir müssen wieder lernen, daß abweichende Meinungen nicht unbedingt der Bosheit entspringen, sondern auch Argumenten, vielleicht nur einem anderen Lebensgefühl. Er schließt mit der rhetorischen Frage: "Wenn es nur darum ginge, alle Meinungen auf die Mitte des politischen Spektrums zu begrenzen, was wäre der Unterschied zur Diktatur?"

Für diejenigen, die das alles schon längst wissen, ist es tröstlich, daß solche Wahrheiten nunmehr auch bei der Zeit angekommen sind. Doch Die Zeit hat noch viel mit und bei sich selbst zu tun: Schrieb sie doch 1993: "Immer nur die Wahrheit zu sagen, ist ein edler Grundsatz, aber langweilig. Und schwer einzuhalten, denn Tricks und Täuschungen gehören nun mal zur menschlichen Natur." Gehören Jesses neue Erkenntnisse zu den "Tricks und Täuschungen"? Soll der Bock zum Gärtner des Liberalismus gemacht werden? Skepsis bleibt.

Vorerst erscheint es besser, sich an den Fernseh-Unterhalter Harald Schmidt zu halten, der ironisierte: "Ich bin ein Konservativer. Ein Konservativer hat die Bibel, Goethe und ein Sparbuch. Der Liberale, der zieht sich noch bunte Krawatten an und tanzt auf Gartenfesten, um zu zeigen, daß er irgendwie offen ist oder so. Ich weiß keinen Grund, wozu wir Liberale brauchen."