20.04.2024

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20.04.02 / Das doppelte Lottchen

© Das Ostpreußenblatt / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 20. April 2002


Das doppelte Lottchen
von Hella Leuchert-Altena

Kennen Sie das? Man ist hundemüde nach einem anstrengenden und arbeitsreichen Tag, begibt sich zur Ruhe, hat gerade die Glieder gestreckt, da setzt sich jemand auf den Bettrand, einer, der eben noch nicht müde ist.

"Mama, weißt du noch?" und dann schabbert man bis Mitternacht. Meine Tochter begann heute mit "Darf ich dich mal was fragen? Warum heißt eigentlich Oma Lotte - Lotte? Ist das eine Abkürzung von Charlotte?"

Ich schüttelte den Kopf, während mein Gesicht ein Lächeln zu formen begann. "Nein", antwortete ich, "sie hieß immer Lotte, nur Lotte halt."

"Lotte heißen doch Pferde, oder?" erwiderte sie.

"Eben", warf ich spontan ein, und mein Lächeln verstärkte sich. "Verstehe ich nicht", meine Tochter zuckte mit den Schultern.

"Komm rein", sagte ich, hob die Bettdecke hoch und sie krabbelte ins Nest, hatte erreicht, was sie wollte.

"Na ja", fuhr ich fort, "das ist so, weißt du. Mein Großvater arbeitete sein Lebtag auf dem Gestüt in Georgenburg. Es lag gleich bei Insterburg, wo ich geboren wurde. Oma und ihre Geschwister sind aber dort noch zur Welt gekommen. Es gibt übrigens einen bekannten Roman darüber. Auf diesem Gestüt wurden Pferde gezüchtet, Trakehner nannte man sie, und ihr Blut mischte sich, zumindest anfänglich, mit arabischen Hengsten und schottischen Stuten, jedenfalls wurde es mir so berichtet", sprach ich. "Wo ist denn da der Zusammenhang?" Meine Tochter ruschelte ungeduldig mit den Füßen herum. Ich schlug leicht mit der Hand auf die Bettdecke.

"Halt still, du lüftest, es wird kalt, ich erklär's dir doch", meinte ich. "Also: Dein Urgroßvater arbeitete, wie gesagt, auf diesem Gut. Er begab sich auch mit den Hengsten zu den Höfen anderer Züchter und Gestüte, um die Stuten decken zu lassen, und wenn er das nächste Mal wieder dort vorbeikam, sah er die Fohlen auf der Weide, und mit der Zeit wurden es seine Kinder. Viele Tiere hatten ihm das Leben irgendwie zu verdanken, Geburten waren mit Ereignissen, Spannungen und Wundern verbunden."

Ich stockte ein wenig. "Jede Geburt ist ein Wunder", sann ich und drückte mein Kind für einen Moment unbewußt. "Na ja, und eines Tages, als er wieder einmal half, hielt er das kleine Fohlen in seinen Armen. Es war sehr schwach und bedurfte seiner besonderen Zuwendung. Sie wurde die schönste und prächtigste Stute auf dem Georgenburger Hof, und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute ..."

Meine Tochter hob den Kopf: "Na und", fragte sie genervt. "Mein Gott, das Tier hieß Lotte, wie lange kann man denn brauchen, um etwas zu sortieren. Dein Urgroßvater war nach vier Söhnen so glücklich, endlich Vater eines Mädchens zu sein, daß er nicht davor zurück-schreckte, seine Tochter Lotte zu nennen. Den größten Liebesbeweis, den er ihr geben konnte." Meine Tochter fing laut an zu lachen, sie hätte neulich mit ihrer Schwester einen Film mit Heinz Rühmann gesehen, der einen Berliner Droschkenkutscher darstellte und mit seinem Pferd nach Paris machte, und auf diesem Weg fragte ihn jemand nach dem Namen seines Tieres. "Lotte natürlich, jeder richtije Gaul heest so", sagte Rühmann, der Eiserne Gustav, und Oma hätte beleidigt den Raum verlassen.

"Siehst du, da hättest du den Zusammenhang schon kombinieren können."

"Und?" begehrte meine Tochter zu wissen, "wie war das Verhältnis zwischen Vater und seiner Tochter Lotte?"

"Sie mochten sich sehr, verwöhnt hat er sie, den Söhnen vorgezogen, wie das so ist, und als er ganz plötzlich verstarb, war meine Mutter, deine Oma, untröstlich, dann aber später doch froh, daß er Krieg und Vertreibung nicht mehr erleben mußte."

"Dann hast du deinen Großvater ja gar nicht mehr kennengelernt", sagte sie, denn sie wußte, daß ich erst Ende des Krieges geboren wurde. "Aber du hattest ja sicher noch einen."

"Ja, natürlich", erwiderte ich, "aber gekannt habe ich ihn dennoch nicht, denn er ist auf der Flucht verhungert", und eine Träne kullerte auf meiner Wange entlang, aber meine Tochter bemerkte es nicht mehr, sie war in meiner Armbeuge eingeschlafen, pünktlich wie immer, denn ich hörte die Wanduhr im Wohnzimmer zur Mitternacht schlagen.