20.04.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
20.04.02 / Er hieß Kalli

© Das Ostpreußenblatt / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 20. April 2002


Er hieß Kalli
von Margot Gehrmann

Die Mutter weckte sie, indem sie leicht mit dem Zeigefinger gegen ihre Schläfe pochte - wie immer. Margot versuchte mit mäßigem Erfolg, die Augen zu öffnen, machte sie aber gleich wieder fest zu. Wahrscheinlich hatte sie nur geträumt, denn es war Sommer und beim Aufstehen immer schon sehr hell, jetzt war es noch dunkel. Sie drehte sich auf die andere Seite, um weiterzuschlafen, aber das Klopfen hatte sich nur auf die andere Schläfe verlagert.

Die Mutter stand vor ihrem Bett, das eigentlich ein Strohlager war, legte den Zeigefinger vor die Lippen und flüsterte: "Du mußt jetzt aufstehen, unser Baby hat sich angemeldet. Du muß mir helfen, zur Hebamme zu gehen."

Margot glaubte immer noch zu träumen. Welch ein Baby? Und was ist eine Hebamme? Sie rieb sich die Augen, stand auf und setzte an, die Mutter zu fragen. Diese legte wieder den Zeigefinger auf die Lippen, denn die beiden Brüder sollten noch nicht aufwachen.

"Unterwegs erkläre ich dir alles. Wasch' dich, putz' die Zähne und zieh dich an. Wir müssen uns beeilen."

Waschen und anziehen war schnell gemacht, nur die Zähne mochte sie nicht putzen - salziges Wasser mit dem Finger immer wieder über die Zähne reiben - einfach scheußlich. "Eines Tages wird es wieder Zahnpasta und Bürsten geben", tröstete die Mutter sie und trieb sie zur Eile an. Der kleine "Fluchtrucksack" war gepackt, wie selbstverständlich schnallte sie ihn auf den Rücken und ab ging es ins nächste Dorf. Unterwegs erzählte ihr die Mutter, daß sie spätestens morgen ein Baby haben werden. Nach der Schule könne sie dann kommen und es sich ansehen. In ein paar Tagen wären sie dann alle zusammen zu Hause oder besser gesagt im "Übergangszuhause". Margot möge nicht nur heute die Brüder rechtzeitig wecken, darauf achten, daß sie sich waschen, Zähne putzen und eine ordentliche Scheibe Brot essen. Schularbeiten sollen sie machen - Margot wäre nun für einige Tage für alles verantwortlich, für alles, was über den Tag zu erledigen war.

Aufgeregt versprach sie der Mutter, daß sie alles ganz genau erledigen werde, obwohl ihr doch ein bißchen bange war - nicht nur wegen der Arbeit. Sie wußte genau, daß die Brüder ihr nicht gehorchen würden, sie wahrscheinlich verkloppen würden, was ganz einfach war - einer hielt sie fest und der andere verhaute sie. Sie war sich sicher, daß die beiden in diesem Extremfall keine Ausnahme machen würden.

Hoffentlich bekomme ich ein Schwesterchen, betete sie inbrünstig. Gut, im Augenblick wäre das noch keine Hilfe, aber man konnte doch immer mal mit künftigen Situationen drohen.

Wieder zu Hause angekommen, weckte sie die Brüder, die selbstverständlich weder aufstehen, noch Zähne putzen, noch sonst etwas tun wollten: "Du hast uns nichts zu sagen, du bist nicht unsere Mutter." Das sollte sich in den nächsten Tagen auch nicht ändern, aber Margot hatte sich fest vorgenommen, nichts zu verraten, denn lange wollte die Mutter ja nicht wegbleiben und letztendlich sahen die Brüder auch ein, daß sie sich einigermaßen ordentlich betragen mußten.

Der nächste Schultag war eine Ewigkeit lang. Als er dann endlich zu Ende war, wäre sie gern schnurstracks ins nächste Dorf gelaufen, um sich das neue Baby anzusehen, aber die Pflicht rief oder besser gesagt, die ungezogenen Brüder wollten etwas zu essen haben.

Als sie dann endlich vor einem kleinen Bettchen stand, war sie überwältigt, auch wenn das "Schwesterchen" wieder ein Bruder geworden war und Karl-Anton hieß. Ganz klein war er, schrie erbärmlich und hatte einen ganz roten Kopf. Und dann konnte sie sehen, warum er schrie - zwischen Daumen und Zeigefinger und Zeigefinger und Mittelfinger hatte er Haut wie bei einer Ente. Margot weinte mit und war unendlich traurig, daß sie ihm nicht helfen konnte. "Kalli hat keine Schmerzen", sagte die Mutter mit einem kleinen Lächeln, "er hat einfach nur Hunger und das hat er ständig. Und sein Händchen wird ein Arzt richten, das verspreche ich dir."

Ein Stein fiel ihr vom Herzen, unentwegt streichelte sie das kranke Händchen und war froh, daß so ein winziges Baby nicht unbedingt so einen langen Namen haben mußte - Kalli, das war der richtige Name für ihn.

Zu Hause angekommen, wußte sie gar nicht, wem sie zuerst erzählen sollte von dem Baby, was sich dann aber von selbst erledigte, denn der alte Mann lief ihr zuerst über den Weg. Aufgeregt hüpfte sie von einem Bein auf das andere. "Wir haben ein Baby, ich habe ein Brüderchen", schrie sie immer wieder. "Kiek die bloß de Deern an, Anna", sagte er zu der alten Frau, die gerade Fenster putzte. "Nu bekömmt wie noch ein lüttsches Baby in't Huus. Hebbt wie nich noch de olle Kentüffelkiep? De könnt wie doch so'n büschen hübsch machen, damit de Jung siin Bett hett." Die alte Frau schimpfte vor sich hin, hatte keine Zeit wegen der Fenster und fand "denn ollen Kierl total verrückt wie immer, wenn so'n hübsche junge Fruu in Speel war".

"Kannst diene Modder seggen, datt wie ein lütt Bett för denn lütt Jung mookt hebbt. Jetz hebbt de Flüchlinge doch toatsächlich so wat wie'n Einheimischen in dee Familje", stellte die alte Frau etwas verwundert fest. Mit artigem Knicks bedankte Margot sich und als sie es am nächsten Tag der Mutter erzählte, weinte diese, was komisch war, weil es doch eigentlich Grund zur Freude gab.

Und dann war es soweit: Ganz allein, den kleinen Rucksack auf dem Rücken, den Babybruder in eine saubere, neue Decke eingewickelt auf dem Arm - so kam die Mutter zurück. Auf dem Weg in das kärglich eingerichtete Zimmer wurde sie von den alten Leuten angehalten, mußte Glück-wünsche entgegennehmen, bewundernde Worte für "so ein wunderschönes Kind".

Margot hatte den Raum so gut wie möglich hergerichtet, sogar einen kleinen Blumenstrauß hatte sie von der Wiese mitgebracht. Mitten im Zimmer auf dem Fußboden stand die Kartoffelkiepe und war nicht wiederzuerkennen. Ein großes und ein kleines Kissen lagen darin, so etwas wie eine Matratze mit Laken und alles strahlte in allerschönstem Weiß. Vorsichtig legte die Mutter das Baby ins Bettchen und weinte. "So hat doch jeder seine guten Seiten", schluchzte sie, "und ich danke Gott, daß er uns in der größten Not immer wieder hilft. Jetzt brauchen wir nur noch einen Ofen für den Winter, aber noch haben wir Zeit und irgendwie wird er da oben es schon richten - und seht euch nur das Bettchen an, es läßt sich sogar wippen."

Schönes Ostpreußen: Partie an der Gilge Foto: Eva Reimann

Ostpreußen heute: Seeufer in Sensburg Foto: Thea Weber