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27.04.02 / Wie die Parteien die Familie entdecken

© Das Ostpreußenblatt / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 27. April 2002


Betreuung oder Erziehung?
Wie die Parteien die Familie entdecken
Diskussion der Politiker über Wege zur Förderung des deutschen "Humankapitals"
von Jürgen Liminski

Wenn es ein Thema gibt, bei dem öffentliche und veröffentlichte Meinung stark auseinanderklaffen, dann bei der Diskussion um die Familie. Nicht nur Politiker, die von den wahren Verhältnissen der Familie in Deutschland wenig Ahnung haben, fallen immer wieder auf die Veröffentlichungen von Journalisten herein, bei denen die Thematik wenig Ansehen genießt. Auch die Wirtschaft - insbesondere Manager großer Unternehmen und die meisten führenden Funktionäre - kümmert sich kaum um diese Institution. Dabei ist es die Familie, die das Humankapital erzeugt und schafft, wovon Wirtschaft und Gesellschaft leben. Der ehemalige Verfassungsrichter Böckenförde hat einmal den Satz geprägt, wonach dieser Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht geschaffen hat. Man könnte hinzufügen, er ist auch dabei, diese Voraussetzungen ernsthaft zu gefährden.

Ein Denkfehler in diesem Sinn ist die Gleichsetzung zwischen Betreuung und Erziehung. Betreuung heißt satt, sauber, beschäftigt. Erziehung aber ist mehr als Betreuen, es ist Beziehung zwischen Personen oder, nach einem Wort von Johannes Paul II.: "Erziehung ist Beschenkung mit Menschlichkeit." Solche Zusammenhänge werden weitgehend verdrängt, wenn von der Ganztagsbetreuung, dem Nonplusultra der derzeitigen Familienpolitik, die Rede ist.

Familie ist also wieder "in", und zwar nicht nur, weil man sie in der Mitte der Gesellschaft vermutet, wo die Wahlen entschieden werden, sondern auch weil das demographische Defizit mittlerweile Politik und Wirtschaft vor Tatsachen stellt, die zum Handeln zwingen. So schlägt der jahrelange Geburtenrückgang immer deutlicher auf den Arbeitsmarkt durch, die Fachkräfte werden immer knapper. Daran werden die Einwanderer der Zukunft grundsätzlich nicht viel ändern, wie die Wissenschaft heute schon verläßlich voraussagen kann. Die Folge: Wirtschaft und Politik wollen Frauen stärker in den Prozeß der Erwerbsarbeit einbeziehen, und deshalb reden sie der Vereinbarkeit von Familie und Arbeit außer Haus das Wort, sprich der Ganztagsbetreuung. Aber was sagen Frauen selbst dazu? Hier hört man überwiegend Politikerinnen reden, oder Verbandsfrauen. Nicht selten befällt den Beobachter dann der - im Einzelfall vielleicht auch ungerechte - Eindruck, diese Vertreterinnen des wirtschaftlich-politischen Komplexes wollten vor allem ihren Lebensstil rechtfertigen. Niemand will sie anklagen. Aber die Uniformität des Denkens schafft Unbehagen. Hausfrauen, die in der Regel besser wissen und fühlen, was Kinder brauchen, kommen nur selten zu Wort. So entsteht eine veröffentlichte Meinung, die die Wirklichkeit stark verzerrt.

Angesichts dieser Ausgangslage verfährt der Kanzler nach der Devise: Frechheit siegt, zumindest in der Mediengesellschaft. Nach diesem Motto hält er eine Regierungserklärung, in der er die Familienpolitik seiner Regierung preist und Volk und Vertreter mit Zahlen blendet. 53 Milliarden Euro gebe seine Regierung jährlich für die Familie aus. Das hört sich gewaltig an. Es ist auf den ersten Blick unklar, woher diese Zahl kommt. Eine Bestandsaufnahme des Kieler Instituts für Weltwirtschaft vom August 2001 über Familienförderung in Deutschland kommt gar auf rund 165 Milliarden Euro. Darin enthalten sind Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz, Ausgaben für Hochschulbildung, steuerpolitische Maßnahmen, Ehegattensplitting und vieles andere mehr, was mit Familien nur bedingt zu tun hat.

Der Grundfehler ist: Es sind in beiden Fällen Zahlen von Transferleistungen des Staates, sicher, aber sie gehen überwiegend in staatliche Einrichtungen. Der Staat als Anbieter auf dem Markt der Betreuung, Vater Staat als Wächter und Kontrolleur der Erziehung. Dabei heißt es im Grundgesetz, Artikel 6: "Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht." Diese Pflicht kann sich nicht darin erschöpfen, daß Eltern ihre Kinder morgens an irgendeiner staatlichen Tür abliefern und abends gestreßt wieder abholen. In manchen Fällen geht es vielleicht nicht anders. Aber die Eltern sollten die Wahlfreiheit haben, das Angebot des Staates anzunehmen oder ihre Kinder selber zu erziehen. Ganz abgesehen davon, daß die Kosten für Krippen und Kindergärten in den meisten Fällen schon mehr als die Hälfte des Kindergeldes wegschlucken.

Insgesamt ist die Zahlenhuberei des Kanzlers auch von den päd-agogischen Aspekten und den Bedingungen des Lebensalltags vieler Familien mal abgesehen eine Rechnung mit Wirt, aber ohne Gast. Denn daß die Familien mehr zurückzahlen, als sie bekommen, darüber schweigt der Kanzler. Unionsfraktionschef Merz wies zu Recht auf die mehr als eine Million Kinder hin, die in Deutschland von der Sozialhilfe leben, und anhand der Statistiken bei Wohlfahrtsverbänden, Kirchen oder Ämtern läßt sich leicht ausrechnen, daß sämtliche Zuwendungen etwa ein Drittel der wirklichen Kinderkosten ausmachen. Wie ist auch sonst zu erklären, daß Alleinerziehende und kinderreiche Familien die traurige Liste der Armen in Deutschland anführen. Auf ihrem Rücken tobt sich die Spaßgesellschaft aus, und der Eindruck liegt nah, daß auch die Politik, vor allem der Kanzler, ihr Späßchen mit diesem Thema hat. Ernst zu nehmen sind die verbalen Kraftmeiereien im Parlament kaum noch.

Es würde schon genügen, mal das eine oder andere Urteil des Bundesverfassungsgerichts oder selbst die Familien- und Armutsberichte der eigenen Regierung durchzublättern. Und daß seine Regierung die Urteile aus Karlsruhe, soweit es geht, mißachtet, auch das war dem Kanzler keine Silbe wert. Oder daß die von ihm als gesellschaftspolitische Großtat versprochene flächendeckende Ganztags-

betreuung à la DDR von der Krippe bis zur Gesamtschule qualitativ weit hinter dem zurückliegt, was selbst schlechte Eltern leisten - das geht aus der ersten und einzigen Qualitätsstudie deutscher Horte und Kindergärten hervor, die der Professor Wolfgang Tietze am Institut für Kleinkindpädagogik erstellt hat -, doch das berührt den Kanzler wenig.

Noch weniger berührt ihn das Schicksal der Alleinerziehenden oder der kinderreichen Mütter. Sie sind gesundheitlich besonders belastet und brauchen deshalb Erholungszeiten. Mütter-Kind-Kuren nennen das die Gesundheitsmanager. Für gerade diese Kuren aber werden jetzt die Leistungen von der AOK gekürzt. Übrigens führend von der AOK in Bayern. Therapiebedürftige Frauen müssen demnächst fast die Hälfte solcher Kuren selber zahlen, was sich keine leisten kann. Es wird noch mehr Zusammenbrüche geben. Eine kleine Änderung des Gesetzgebers würde dem abhelfen, zum Preis von maximal 0,3 Prozent des Gesundheitsbudgets. Auch die Opposition hat diese krasse Ungerechtigkeit noch nicht erkannt. Ähnliches gilt für die von Karlsruhe im Pflegeurteil geforderte Anerkennung der Erziehungsleistung als Beitragsteil zu den Sozialsystemen. Auch hier tut sich nichts. Die Mannschaft Schröder sieht keinen Bedarf für die Umsetzung des Urteils, von der Opposition hört man auch nicht viel, die Richter werden auf absehbare Zeit wieder aktiv werden müssen.

Schröder und seine zuständige Ministerin Bergmann denken in rein materiell wirtschaftlichen Kategorien. Es zählt die Produktion, ihr muß sich der Mensch unterordnen. Das kennt man noch aus DDR-Zeiten. Engels selber meinte: "Erziehung sämtlicher Kinder, von dem Augenblicke an, wo sie der ersten mütterlichen Pflege entbehren können, in Nationalanstalten und auf Nationalkosten. Erziehung und Fabrikation zusammen." Hinzu kommt: Die Wirtschaft braucht wegen des demographischen Defizits das Potential der gut ausgebildeten Frauen. Diese müssen in die Produktion geholt werden, deren Kinder irgendwo geparkt werden. Daß es auch junge Mütter gibt, die in den wichtigen ersten drei Jahren ihre Kinder lieber selber betreuen und somit auch erziehen wollen, das kommt dem Genossen der Bosse und seiner Ostalgie-Ministerin nicht in den Sinn. Erziehung und Fabrikation zusammen - hier verbünden sich Kapitalismus und Marxismus auf Kosten des Menschen.

In anderen Ländern ist man da weiter. Dort wird nicht in staatliche Objekte - Schulgebäude, Krippenplätze etc. - investiert, sondern in die Menschen und damit in die Zukunft. Dort bekommen die Eltern das Geld und entscheiden selbst, ob sie es behalten oder damit Betreuungskräfte bezahlen wollen. Wahlfreiheit nennt das die Politik - zur Bildung von Humankapital, ergänzt die Wissenschaft. In Österreich nennt man es Kinderbetreuungsscheck, in Frankreich Beihilfe zur freien Wahl, in Schweden und Norwegen Erziehungslohn. Hinter solchen Begriffen stehen Gedanken und Bilder, Familienbilder, nicht Feindbilder. Für den Kanzler bleibt die Familie trotz aller Parolen "Gedöns" und im besten Fall ein Produktionsfaktor. Die Diskussion im Ausland geht an ihm vorbei. "Mama, da ist ein Fremder", könnten die familienpolitischen Kinder von ihm und anderen Politikern sagen, die sich im Wahlkampf jetzt der Familie nähern. Was für sie zählt, ist der Eindruck, der sich in Wählerstimmen umsetzen soll. Nach dem 22. September sieht die Welt dann sowieso wieder anders aus. Hoffentlich nicht auch für die heutige Opposition.

 

Zeit für Kindererziehung: Laut einer Qualitätsstudie deutscher Horte und Kindergärten leisten selbst schlechte Eltern für die Erziehung ihres Nachwuchses mehr als öffentliche Einrichtungen. Foto: Keystone

 

Zentrale Aussagen von Friedrich Merz zur Familienpolitik

(230. Sitzung des Bundestages am 18. April 2002)

Wir wollen nicht, daß das frühere Leitbild der Familie, in der in der Regel die Mutter auf eine Erwerbstätigkeit außer Haus verzichtet, nun ausschließlich durch das neue Leitbild einer Familie wird, in der grundsätzlich beide Elternteile ganztägig außer Haus berufstätig sind und Kinder vom ersten Lebensjahr an in Krippen, Horten, Ganztagskindergärten und Ganztagsschule groß werden ... Wir wollen wirklich Wahlfreiheit der Eltern. Wir wollen insgesamt in Deutschland ein besseres Klima für Kinder. Wir wollen, daß Frauen ihre gute Ausbildung besser mit dem Wunsch nach Beruf und Familie vereinbaren können als bisher. Wir wollen aber beispielsweise auch, daß sich Männer der Familienarbeit und ihren Kindern besser und intensiver zuwenden können und dies auch wollen als bisher. Das ist unser Leitbild für eine zukunftsorientierte Familienpolitik. Dazu gehört, daß die Erziehungskompetenz der Eltern gestärkt wird. Das geht aber nicht, wenn mit der Gemeinschaft der Eltern jede beliebige Verbindung zweier Menschen auf Zeit auf eine Stufe gestellt wird. Dann wird es beliebig, und die Erziehungskompetenz der Eltern nimmt mit der Bindungsfähigkeit der Gesellschaft ab.