25.04.2024

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27.04.02 / Die Dame im Zug

© Das Ostpreußenblatt / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 27. April 2002


Die Dame im Zug
von Rudolf Kollhoff

Die Dame neben mir räusperte sich und fragte: "Stört es Sie, wenn ich ein bißchen weine?" Ich schüttelte den Kopf. "Nein, bitte sehr." - "Danke, wirklich nett von Ihnen." Sie setzte ihr Vorhaben in die Tat um, während ich betreten aus dem Abteilfenster blickte. "Ich weine wegen Kurt, wissen Sie", sagte sie plötzlich. "Wir haben uns heute zum ersten Mal getroffen, und ich habe ihm angesehen, wie enttäuscht er war, als wir uns gegenüberstanden." Mechanisch musterte ich meine Nachbarin aus den Augenwinkeln. Sie war eine äußerst attraktive Frau um die Dreißig, gepflegt und geschmackvoll gekleidet. Lockiges, rotbraunes Haar umspielte regelmäßige Gesichtszüge, in denen ein fein gezeichneter Mund tief berührt bebte. Also, dieser Kurt mußte ein kompletter Idiot sein!

Die Dame bemerkte meinen verblüfften Blick. "Ich kenne Kurt schon zwei Jahre", erklärte sie. "Wenigstens das von ihm, das er mir durch Briefe mitteilte. Ich habe seine Adresse in einer Zeitschrift entdeckt. Er suchte jemanden, mit dem er in den Federkrieg ziehen konnte. Sehen Sie, ich wohne in einem winzigen Dorf, weit ab von Tanzvergnügen und kulturellen Veranstaltungen. Bei uns gibt es nur wenig Geselligkeit. Man hat wirklich Schwierigkeiten, Kontakt herzustellen." - "Aber es gibt Straßen", warf ich ein. "Sie können sich in ein Auto setzen und hinfahren, wo es von Menschen nur so wimmelt. Heute ist Abgeschiedenheit doch kein Problem, meine ich." Sie angelte sich ein Papiertaschentuch aus ihrem Handtäschchen und tupfte sich eine Träne von der Wange. "So leicht, wie Sie meinen, ist es auch nicht. Sicher, man kann eine Fahrprüfung ablegen. Dann ist man von Entfernungen unabhängig." Ihr Körper erbebte unter einem heftigen Seufzer. "Es gibt Ausnahmen. Nicht jeder ist imstande, ein Auto zu lenken." "Man kann es lernen. So schwierig ist das auch wieder nicht", gab ich zu bedenken. Meine Nachbarin nickte wortlos. Dann blickte sie aus dem Fenster.

Die nächste Ortschaft kündigte sich an. Der Zug verlangsamte spürbar seine Fahrt. "Ich muß gleich aussteigen", sagte sie leise. "Ob Sie so freundlich wären, mir meine Reisetasche aus dem Gepäcknetz zu holen?"

"Selbstverständlich." Ich sprang von meinem Platz, zerrte eine pralle Ledertasche aus dem Netz. Und da sah ich die Ursache ihrer Mutlosigkeit, ihrer Trauer. Es waren zwei Gehstöcke mit Plastikgriffen, auf die sie sich nun schwerfällig stützte.

Mir blieb das Wort im Halse stecken. Als der Zug wieder anfuhr, winkte ich zaghaft aus dem Fenster, während die Dame langsam über den Bahnsteig ging. Mein Gesicht brannte vor Scham, und mein Inneres war gefüllt mit nichtausgesprochenen Worten.