25.04.2024

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18.05.02 / Serie: Mit der Bahn nach Königsberg

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 18. Mai 2002


Serie: Mit der Bahn nach Königsberg
Notizen von einer Reise in eine vergessene Zeit (Teil I)
von Christian Papendick

Der Inter-City aus Hamburg nach Berlin gleitet fast lautlos über die neu hergestellte Schienentrasse. Was früher zur Zeit der Interzonenzüge noch über fünf Stunden und mehr dauerte, erledigt sich heute in zwei Stunden und 15 Minuten. Der "Fliegende Hamburger" benötigte immerhin drei Minuten länger. Landschaften - zunächst im Mecklenburgischen, dann ab Wittenberge in Brandenburg - rauschen vorüber. Es geht alles sehr gedämpft zu in dem gut besetzten Großraumwagen, man legt sich genüßlich in seinen bequemen Sessel zurück und genießt die Fahrt. Mit warmem Gongton kündigt sich Berlin-Spandau an. Die Großbaustelle beginnt, auch Spandau erhält einen neuen Bahnhof. Bis Charlottenburg sind total neue Gleiskörper im Bau. Hier wurden seinerzeit die D-Züge nach Königsberg eingesetzt: Abfahrt 23.03 Uhr - morgens gegen 8.00 Uhr war man da - eine lange Zeit zurück!

Einstieg in Berlin, Zoologischer Garten, in die S-Bahn 75, Richtung Lichtenberg - quer von West nach Ost. Hinter dem Lehrter Stadtbahnhof zeigt sich die größte Baustelle Europas - Gewirr von Betonsilos, Kieshalden, Planierraupen, eingerüstete Bauprojekte und ein Wald von Kränen. Der S-Bahnzug nähert sich Bahnhof Friedrichstraße - auf der anderen Seite wird die alte Charité sichtbar. Weiter geht es über Alexanderplatz zum wegen Umbaues noch geschlossenen Hauptbahnhof. Schließlich Bahnhof Lichtenberg - Aushilfsbahnhof, wirkt provisorisch und erinnert an alte DDR-Zeiten.

Gleis 17 - der Fernschnellzug nach dem von den Polen "Gdynia" genannten Gdingen mit Schlafwagen nach Königsberg wartet bereits am Bahnsteig. Gemischtes Puplikum findet sich ein: Ältere Heimwehtouristen, die unermüdlich Jahr für Jahr in ihre alte Heimat fahren - aber auch ganz normale Touristen, die neugierig sind, das Land kennenlernen wollen - Rußlanddeutsche, die zu ihren Verwandten in das Königsberger Gebiet fahren - Russen, Polen - einige mit großen Kisten und Kartons bepackt. Ein freundlicher polnischer Schlafwagenschaffner weist uns in die Abteile, ein Verriegeln der Tür nach Überfahren der Grenze von innen wäre angebracht. Es riecht etwas fremdartig, erinnert ein wenig an alte Ostgerüche. Die Warmwasserversorgung der einzelnen Waggons erfolgt noch mittels Kohleheizung - auch dafür ist der Schaffner zuständig.

Der Zug fährt pünktlich ab - kommt schnell in Fahrt. Bernau bei Berlin - Eberswalde - Angermünde, deutscher Grenzschutz steigt zu - Paßkontrolle bis Tantow, der letzten bundesdeutschen Grenzstation. In Stettin polnische Grenzkontrollen - Stempel in die Pässe - es geht alles reibungslos. Man steht noch im Gang, redet mit Mitreisenden, trinkt ein gutes, preiswertes polnisches Bier - von irgendwoher dringt herrliche ostpreußische Mundart durch. Man denkt darüber nach - nur wenige Jahrzehnte wird sie sich noch erhalten - bis die Letzten dieser Erlebnisgeneration nicht mehr zu den Lebenden zählen.

Der rhythmische Takt, der durch die noch nicht verschweißten Schienenstränge entsteht, ruft Erinnerungen an bei uns längst vergangene Zugfahrten hervor. Er vermischt sich mit dem dazugehörenden Rauschen des Fahrtwindes und bringt den Schlaf bis zum frühen Morgen, der das erste Ziel, Gdingen, um 7.00 Uhr erreichen läßt. Erstaunen über die, soweit vom Bahnhof einschätzbar, Größe der Stadt, geschäftiges Treiben schon zu früher Morgenstunde. Abkoppeln und Verschieben der Waggons - dann setzt sich ein neuer Zug in Bewegung - wird immer schneller: Zoppot, Olivia, Danzig mit nicht zu übersehender "McDonald's"-Reklame am historistischen Bahnhofsgebäude. Nach kurzer Fahrt Ankunft in dem von den Polen "Tczew" genannten Dirschau. Hier stößt der Zug wieder auf die Strecke der damaligen Ostbahn, die in direkter Linie Berlin mit Königsberg verband. Die einstige bekannte Eisenbahnbrücke wurde bereits Anfang des Krieges zerstört - jetzt überquert der Zug an einem herrlichen Junimorgen die Brücke über die Weichsel. Blicke bieten sich an in die weite Landschaft des Marienburger Werder. Kurz vor Erreichen der Nogat Wechsel der Fahrgäste zur anderen Zugseite mit Blickrichtung Süden. Mit gemächlichem Tempo nähert sich der Zug der Nogatbrücke. Und dann wird sie sichtbar - die Marienburg. Bei völlig ruhigem und klarem Wetter spiegelt sich die mächtige und größte Burganlage Europas faszinierend im Wasser der Nogat - ein großartiger Anblick - und damit verbunden der Einstieg in die 700jährige Geschichte der Kulturlandschaft Ostpreußens.

Bedächtig ratternd fährt der Zug in den Bahnhof von Marienburg ein. Etwas längerer Aufenthalt durch Lokwechsel. Doch dann geht es weiter über Elbing - die alte Hansestadt, 1237 durch den Bau der Burg gegründet, ein kurzer Moment gibt den Blick frei auf den Elbingfluß mit Stadt und Nikolaikirche - nach Braunsberg. Unterwegs hinter Elbing schöne Landschaftsbilder des Oberlandes mit Sicht weit in das leicht hügelige Land hinein bis zu den Horizonten - bestellte Felder, intakte Wälder, Kraniche auf geschützten Wiesen - und Dörfer, die trotz unübersehbarer Alterserscheinungen durchaus heil zu sein scheinen. In der Ortsmitte oft noch die typischen alten Dorfkirchen aus der Ordenszeit im Stil der Backsteingotik. Darüber ein hoher Himmel mit herrlichen Wolkenformationen - wir sind in Ostpreußen, im südlichen, heute zur Republik Polen gehörenden Teil.

Nach nochmaliger Paß- und Zollkontrolle verläßt der Zug Braunsberg in Richtung innerpreußische Grenze. Die Fahrt verlangsamt sich zusehends, die Landschaft wird einsamer - der russisch verwaltete Teil Ostpreußens scheint nicht mehr weit. Auf dem gegenüberliegenden Gleis wuchert das Unkraut. Bremsen quietschen - der Zug hält. Draußen russische Grenzsoldaten. Intensive, aber freundliche Paß- und Zollkontrolle, Ausfüllen von Formularen, es dauert über eine Stunde, bis sich der Zug wieder in Bewegung setzt, vorbei an Grenzzäunen mit Alarmanlagen - geharktem Sandstreifen - dann fester Gehweg - Wachtürme! Sind diese Zeiten nicht vorüber?

Rumpelnd, knarrend, holpernd gewinnt der Zug langsam Fahrt über verwucherte Bahngeleise. Die Stoßgeräusche durch die Schienenabstände werden intensiver. Die Gleisanlagen stammen anscheinend noch aus der Vorkriegszeit, Normalspur - daneben russische Breitspur. Der Rhythmus wird immer stärker - wird zur Musik! Bei hintereinanderliegenden Weichenanlagen scheint sich alles zu überschlagen - doch dann fängt sich der Takt wieder.

Draußen gespenstisches Szenario, verwilderte, verwucherte Landschaft - seit über fünf Jahrzehnten sich selbst überlassen - Ödland, dazwischen Schrott aus der Sowjetzeit, Rost im Kontrast zum frischen Grün - Erlen - immer wieder Erlen - dann Birken, Weidengestrüpp und umgestürzte Bäume. Die Natur hat sich verselbständigt - starke Pflanzen setzen sich durch, andere verkümmern und vergehen. Früher waren hier weite Kornfelder. Heiligenbeil kommt, der erste Halt im russisch verwalteten Ostpreußen, dem Königsberger Gebiet. Verfallene Vergangenheit zeigt sich, Schuppen an den Gleisen mit verwaschenen deutschen Inschriften. Kinder kommen an den Zug, einige Reisende werfen ihnen etwas zu, Uniformierte tauchen auf, alles verschwindet - nimmt Reißaus! Einige Gleise weiter steht ein langer pechschwarzer Zug - mit verschmierten Tankwagen, russisches Öl aus dem Königsberger Gebiet für Polen!

Die Fahrt geht weiter - auf der Höhe von Groß Hoppenbruch schlängelt sich der Zug durch große Wiesenflächen, erst bei näherem Hinsehen macht man eine ganze Reihe von Schienensträngen aus, hier muß ein Güterbahnhof gewesen sein! Doch es ist alles überwuchert! Ein altes fensterloses Schrankenwärterhaus zeigt an, daß hier die Straße nach Balga kreuzt, der berühmten Burgruine am Frischen Haff. Und dann wird dieses für ganz kurze Zeit sichtbar. Die Wiesenflächen reichen direkt bis an das Ufer heran, doch verwilderter, hochgekommener Wald verdeckt schnell wieder die Sicht. Die Strecke macht einen leichten Bogen nach Osten und entfernt sich wieder vom Haff. Jetzt wird leicht hügeliges weites Land sichtbar mit satten Grünflächen, einige Flächen sind jetzt sogar bestellt - ein großes Rapsfeld taucht auf. Im Mai wäre das ein unglaublicher Kontrast zu diesem jetzt herrschenden tiefblauen Himmel gewesen! Wahre Wolkensinfonien haben sich aufgebaut, die unter den Mitreisenden, die fast alle diese Fahrt vom offenen Fenster her verfolgen, Begeisterungssalven hervorrufen. Und immer wieder werden größere Flächen blauvioletter Lupinen sichtbar - wunderbar verwildert und durchsetzt und umrahmt von zahlreichen Margeriten. In der Ferne auf etwas erhöhtem Gelände eine Chaussee mit gleichmäßig aufgeperlten Alleebäumen - die alte ehemalige Reichsstraße 1. Eine Brücke überquert den Fluß Frisching, der recht kümmerlich wirkt, das Wasser verdreckt, trotzdem wartet ein Angler anscheinend geduldig auf einen Anbiß. Die ersten Siedlungen mit Datschen zeigen sich, Königsberg ist nicht mehr weit. Überall wird geackert und gepflanzt. Die halbe Stadt scheint sich an dieser Lieblingsbeschäftigung der russischen Bevölkerung zu beteiligen, doch für viele ist es auch die Basis ihrer Existenz, fast ein Drittel der Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze, doch nur die wenigsten dieser Menschen können sich überhaupt so eine Datscha leisten.

Der Zug biegt wieder nach Osten ab, eine Strecke, die dem kundigen Königsberger von früher her nicht bekannt ist. Die Einfahrt in den Königsberger Hauptbahnhof wird demnach von Osten erfolgen. Industrieanlagen ziehen vorüber, plötzlich Hunderte von Radachsen, meistens verrostet, ineinander verschoben und verkeilt. Dann die ersten großen Wohnblocks, Tristesse ausstrahlend - mit Hunderten von Balkons, vorwiegend benutzt zum Wäschetrocknen, einige Fahrräder hängen zur Aufbewahrung an den Brüstungen. Der Zug bringt nervige Laute hervor, kreischt, die Schienen scheinen nicht mehr ganz zu passen! - Und dann sind wir da, in der Stadt, die nach ihrer jahrhundertealten Geschichte in diesem so unglückseligen Krieg so grausam untergegangen war, die nach der nicht mehr vorstellbaren Wende und Öffnung der Grenzen - ihrer Menschen beraubt - nach fast fünf Jahrzehnten aus ihrer Versenkung unfaßbar verwundet und entstellt emporstieg und für uns wieder sichtbar wurde, die viele ihrer Wiederkehrer in ihrem Verfall so sehr erschreckt hatte. - Wir wollen versuchen, Reste ihrer Geschichte aufzuspüren - und Hoffnung zu finden im Land der zerfallenen Kirchen.