28.03.2024

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18.05.02 / Hunger

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 18. Mai 2002


Hunger
von Alfons Kuhn

An einem kalten Wintertag gelingt es zwei jungen deutschen Kriegsgefangenen, unbemerkt an der Rückseite des Lagers unter dem Zaun durchzukriechen. So ein "Ausbruch" kann nur an einem arbeitsfreien Sonntag geschehen und dann auch nur tagsüber, weil dann die beiden hinteren Wachtürme nicht besetzt sind, wenn es sehr kalt ist.

Der nagende Hunger treibt uns an, und wir hoffen darauf, in der Nähe des Lagers für eine Gelegenheitsarbeit mit einem Kanten Brot oder einigen Pellkartoffeln belohnt zu werden. Durch eine zur Hälfte zugeschneite Erdmulde unter dem Zaun kriechend, sind wir in wenigen Sekunden außerhalb des Lagers, und weil weit und breit kein Mensch zu sehen ist, wagen wir den Marsch ins Ungewisse.

Selbst aus geringer Entfernung sind wir kaum von den Einheimischen zu unterscheiden, denn, wie alle Russen im Winter auf dem Land, tragen wir Fellmützen mit langen Ohrenklappen, Wattejacken und -hosen und die für uns ungewohnten "Walinkies", das sind über einen Leisten gewalkte Filzstiefel, die auch bei grimmiger Kälte die Füße warm halten. So sind wir halbwegs sicher, unterwegs nicht als Lagerinsassen erkannt zu werden.

Es gibt vielleicht ein Dutzend Datschas im Umkreis von zwei bis drei Kilometern, die weit auseinander liegen. Aus jedem Schornstein steigt - bei Tag und bei Nacht - eine dicke, weiße Rauchfahne in den klaren Winterhimmel. Diese hellen Rauchfahnen, auch vom Lager aus gut zu beobachten, ziehen unsere Blicke immer wieder an.

Wir wußten aus den Erfahrungen des letzten Kriegswinters, daß die Russen auf dem Land in ihren Datschas nur Holz verfeuern und sich, bei Nacht und Nebel, mit dem nötigen Brennholz selbst versorgen aus den nahen Birkenwäldern. Die geklauten Stämme müssen schnell zu Brennholz verarbeitet werden, und darauf setzten wir unsere Hoffnungen.

Wir vermeiden die Feldwege und peilen - querbeet durch tiefen Schnee stapfend - das nächstgelegene Haus an. Ein bösartig kläffender Hund - zum Glück an der Kette - zwingt uns zu einer Kursänderung. Auf einer festgetretenen Spur, die zu einer anderen Datscha führt, kommen wir etwas schneller voran. Beim Näherkommen sehen wir vor der Eingangstür einen Holzstoß mit bereits zersägten Birkenstämmen. Jetzt nur nicht stehenbleiben, sonst machen wir uns verdächtig!

Hinter einer der kleinen Fensterscheiben neben der Eingangstür bewegt sich der Kopf einer Frau. "Hast du die Matka gesehen hinter der Scheibe?", frage ich. "Ich sehe nur auf den Stapel mit Holz", erwidert mein Kumpel.

Zum Glück kein kläffender Hund - ein gutes Omen? Schon geht die Haustür auf, und eine Matuschka mit Kopftuch erscheint. Sie steht da, als hätte sie uns erwartet. Und jetzt läuft - zunächst - alles so ab, wie wir es uns wieder und wieder vorgestellt hatten: Wir zeigen beide auf den Holzhaufen und machen die Bewegung des Holzhackens. Die Matka nickt mit dem Kopf, geht ins Haus, kommt bald darauf mit zwei Äxten zurück - und läßt uns allein. Uns ist nach einem Freudentanz zumute. Wir müssen uns beeilen, damit wir noch vor Sonnenuntergang ins Lager kommen. Während die Äxte das Holz in Stücke spalten, melden sich die ersten Bedenken: "Ob die Matka allein im Haus ist? Vor ihr brauchen wir keine Angst zu haben; was aber ist mit dem Mann?" - "Was redest du von dem Mann? Glaubst du, das Holz läge noch hier draußen, wenn der Mann zu Hause wäre? Der hätte das Holz längst in Sicherheit gebracht."

Lieber nicht nachdenken und schneller arbeiten. Hin und wieder schaut uns die Frau zu, und als die Arbeit getan ist, erscheint sie wieder im Türrahmen und winkt uns ins Haus. Wir sollen die Äxte in die Ecke stellen und unsere Jacken über die Wandhaken hängen, macht sie uns mit Gesten deutlich.

Wir drehen uns zur Wand - und das Blut stockt in den Adern: Erst jetzt fällt uns der Mantel auf an einem Wandhaken, ein Offiziersmantel mit drei großen Sternen auf den breiten Schulterstücken. Drei Sterne trägt nur ein "Polkownik", ein Oberst der Roten Armee. Die Frau sieht unser Entsetzen, hebt wie beruhigend die Hände, und nur ein kleiner Schalk in ihren Augen hält uns davon ab, in Panik aus dem Haus zu rennen. Da ist auch schon seine Stimme: "Kamerad, idi suda - komm her!" Noch ein fragender Blick zur Matka - sie nickt aufmunternd - und dann schieben wir uns in den Wohnraum, nehmen stramme Haltung an.

Genosse Oberst, auf einem alten Sofa liegend, grinst sich eins, winkt mit der Hand ab und will nur wissen, was und wieviel wir im Lager zu essen bekommen. Die gute Fee macht dem "Verhör" ein Ende, winkt uns in die Küche, lächelt dabei verschmitzt - und geht zu ihrem Mann. Sie lassen uns tatsächlich allein, der Oberst und seine Frau, während wir uns mit Pellkartoffeln, Brot und Salzgurken ungestört vollstopfen können.

Dann wird es höchste Zeit, uns auf den Rückweg zu machen. Wir müssen unbedingt im Lager sein, bevor alle vier Wachtürme besetzt sind. Von einer Bodenwelle aus sehen wir die vordere Front des Lagers mit dem Eingangstor. Jetzt schnell noch einen Bogen schlagen bis hin zur Rückseite.

Die matte Sonnenscheibe taucht schon ein in den Dunststreifen am Horizont. Die lange Strecke bis zum Zaun kriechen wir und halten auf die Mulde zu. Einer hebt den Stacheldraht an, der andere windet sich darunter durch.

Zum zweiten Mal wird es uns flau im Magen: Die Wachposten tauchen auf, einer an jeder Seite. Wir drücken uns in den Schnee wie Feldhasen, einer noch vor dem Zaun, der andere schon dahinter. Jeder hat einen Posten im Auge. Gleich werden sie die schwere Maschinenpistole um den Hals hängen und auf den ver-eisten Sprossen hochsteigen. Die wenigen Sekunden genügen uns, um in der Baracke zu verschwinden, die dem Zaun am nächsten liegt.

Erst spät kommt der Schlaf in dieser Nacht, aber endlich wie-der ohne das nagende Hungergefühl.