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18.05.02 / Sonne in kalter Zeit

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 18. Mai 2002


Sonne in kalter Zeit
von Ursula Lübge

Ein richtig warmer Frühlingstag - so, wie man ihn nur in Ostpreußen erleben kann. Es grünte, und die Natur erwachte aus ihrem langen Winterschlaf. Die Erde dampfte, aber vor allem - sie duftete. Diesen Erdgeruch wird ein Ostpreuße nie verlieren und schon gar nicht vergessen! Es war Anfang April, der wievielte, vermochte keiner auf Anhieb zu sagen. Es gab keinen Kalender, keine Uhr, keine Zeitung, kein Radio. Ob "Vojna kapuut" oder "Chittler" erfahren wir sicher, wenn's soweit ist.

Die Front war mit einem Feuersturm am 5. Februar 1945 über uns hinweggefegt. Deutsche Soldaten glaubten nun Ostpreußen zu retten, hatten aber noch keine Kugel pfeifen gehört. Welch ein Trugschluß! Viele sind davon gefallen und konnten erst im Juni 1945 beerdigt werden. Es waren ja kaum Menschen da.

Am 21. Januar war das ganze Dorf gemeinsam auf die Straße gegangen. Mit Pferd und Wagen hoch bepackt. Eigentlich in die falsche Richtung (Ost), aber Befehl ist Befehl! Die Soldaten, die in westliche Richtung fuhren, fragten nach dem Weg über die Weichsel, dort wollten wir eigentlich auch hin. Die Straßen waren schon gesäumt von umgekippten Wagen, Gepäck und toten Pferden. Großvater sagte nur: "Wir kehren um - auf der Straße möchte ich nicht sterben." Viele taten gleiches. Es war ja auch ganz Ostpreußen auf einmal auf der Straße. Einige machten dann wieder fort - mit Schlitten und Handgepäck.

Wir hatten Soldaten im Haus, nur wären da die russischen Soldaten reingekommen, wie auch anderswo, keiner wäre mehr am Leben. Die Soldaten machten fort, ringsherum loderten Feuer. Der Geschützdonner war nah. Wir gingen zu den Nachbarn in einen festen Keller. Von dort holten uns Russen am anderen Morgen heraus. Das Haus brannte und noch sieben Höfe rings umher, auch der unsere. Man trieb uns über die Wiesen zur Ziegelei am Wald. Kugelhagel war angesagt. Pfiff eine Kugel, so bückte ich mich, und Großvater meinte: "Die pfeift, ist vorbei, die trifft, hörst du nicht." Nur wenige Meter weiter, beim Stacheldrahtzaun, traf meine Mutter eine Kugel. Ich hielt den Draht hoch, sie stieg hindurch und fiel um. Ein Oberschenkelschußbruch. Man holte einen Rodelschlitten, und die Nachfolgenden folgten der Blutspur im Schnee. In der Ziegelei verband sie ein russischer Sanitäter, kein Arzt, keine Tetanus-Spritze, der hohe Blutverlust und keine Schiene. Es ging auch von hier wieder weiter, über Stumpf und Stein, durch den Wald. Immer weiter.

Im März jedoch versuchten wir - nur meine Familie - wieder nach Lauck, in unser "idyllisches Dörfchen", zu kommen. Es war der andere Ortseingang. Wo wir einst wohnten, wußten wir ja, daß dort nichts mehr steht. Wo Rauch aus einem Schornstein kam, ging's hin. Das Haus war voller Menschen, und doch fanden wir sechs Personen im Oberstübchen noch Platz. Alles kauerte zusammen, schon als Schutz vor Überfällen.

Unser Ort war fern der Hauptstraßen. Dann kehrten doch nach und nach einige Einwohner zurück, und es wurden weitere Häuser wieder bewohnbar gemacht. Wir hörten, an der Lindenallee, wo sich fünf Siedlungen befanden, wären eine Familie und der Nachbarssohn angekommen. Ihnen gegenüber, jenseits des Grenzgrabens, lag vom Nachbarort (Abbau) ein großer Bauernhof mit einem großen Getreideboden, der noch vieles gegen den Hunger zu bieten hatte: Erbsen und graue "Peluschken", auch "Schusterjungs", breit geklopfte Bohnen. Wir füllten unsere Säckchen und konnten dort vom Boden durch die Lüftungsfenster unter dem Dach sehen, wie auch zu diesem Hof ein Fuhrwerk einbog. Bei der Familie in der Lindenallee hielt auch eines. Von der Chaussee waren's vielleicht 750 Meter. Es war Eile geboten. Wir liefen die Treppe runter, übern Hof und um die Scheune. Doch man mußte uns bemerkt haben. Noch gut 50 Meter Acker und rein in den schützenden Graben. Man schoß einige Male in die Luft. Als dann wieder alles ruhig war, wollten wir unseren Weg zur Allee und zum Ort fortsetzen. Wieder pfiffen Kugeln. Wieder rannten wir, mit unseren Beuteln auf dem Rücken, was die Füße hergaben. In einem herrlich grünen Kleebüschel ließ ich mich schließlich fallen. Wieder zischte eine Kugel vorbei, und unsere Wirtin sagte: "Komm, ich hab doch nur Angst um dich!" Auch sie setzte sich auf den Peluschken-Beutel, und beide keuchten wir mehr als nötig, bettelten, wir hätten doch viele Kinder, die Hunger hätten und mehr ... Dann saßen wir zu "viert" im grünen Klee: ein alter Russe, der kein Wort sagte und kein Wort verstand, der andere sprach ein verständliches "Deutsch". Er erzählte uns einiges, auch daß das Flugzeug, das gerade am Himmel brummte und in der Abendsonne gleißte, nach Königsberg fliege. Königsberg dann "balt kapuut". Als die Sonne sich hinter den Wald neigte, verabschiedeten wir "vier" uns wie Freunde. Als wir dann am anderen Tag erfuhren, was sich noch alles in der Lindenallee zugetragen hatte, wußten wir, uns hatten zwei Schutzengel begleitet an diesem schönen Frühlingstag.