18.04.2024

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01.06.02 / Estland nach dem Grand Prix: Reif für Amerikanisierung

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 01. Juni 2002


Estland nach dem Grand Prix: Reif für Amerikanisierung
Baltisches Musik- und Kulturleben im Umbruch
von Martin Schmidt

Am letzten Samstag stand das kleine Estland im Rampenlicht der internationalen Medien. Nachdem die für die Baltenrepublik startende Gruppe Tanel Padar & Dave Benton mit dem Lied "Everybody" den letzten Grand Prix d'Eurovision gewonnen hatte, durfte diesmal die estnische Hauptstadt Reval (Tallinn) das Spektakel ausrichten.

Erstmals fand der weltweit größte Schlagerwettstreit in einem Land des östlichen Europas statt. Die estnischen Veranstalter zeigten sich der organisatorisch-technischen Herausforderung gewachsen und bewiesen dem ganzen Kontinent durch den Einfallsreichtum und die Perfektion des Rahmenprogramms ihre EU-Reife.

Von einem europäischen Liederfestival im eigentlichen Sinne konnte allerdings auch 2002 nicht die Rede sein: 17 der 24 Finalisten traten mit englischsprachigen Songs an - die Teilnehmer aus Estland, Lettland und Litauen eingeschlossen.

Der Reiz, der gerade von den unterschiedlichen Klängen und Melodien vieler verschiedener Sprachen ausgehen könnte, blieb den 6400 Gästen in der Revaler Saku Suurhall ebenso vorenthalten wie den insgesamt über 100 Millionen Fernsehzuschauern.

Die Erfahrungen der letzten Jahre hatten gezeigt, daß in anderen kontinentalen Muttersprachen vorgetragene Titel nicht erfolgversprechend sind. Das bestätigte sich auch in Reval: Die in Lettland lebende Russin Marija Naumova - kurz "Marie N" genannt - landete mit dem furiosen selbst komponierten Lied "I wanna" auf Platz eins, knapp vor Ira Losco, die für Malta sang. Dann folgten punktgleich Gastgeber Estland und Großbritannien.

Das am besten bewertete nicht-englische Lied kam von den fünftplazierten Franzosen, die wieder einmal ein Beispiel stolzer Sprachpolitik abgaben: Daß französische Grand-Prix-Teilnehmer auf französisch singen, gilt in unserem Nachbarland noch immer als selbstverständlich. Einen Akzent setzte auch die Sprecherin, die aus Paris die Punkte ihres Landes verkündete und dies - abweichend von den Kolleginnen und Kollegen der anderen Teilnehmerstaaten - nicht auf englisch tat.

Während die erst durch die Absage Portugals ins Teilnehmerfeld nachgerückte Siegerin aus Lettland und die zweitplazierte Malteserin zu Recht an die Spitze gewählt wurden, entschieden ansonsten statt der musikalischen Qualität wieder nationale Vorurteile, politische Animositäten und ethnische Seilschaften.

So kungelte bei der Punktevergabe der baltisch-skandinavische Raum ebenso miteinander wie die Staaten des einstigen Jugoslawiens. Zypern und Griechenland schoben sich auch 2002 die besten Plazierungen zu, und der sehr gute israelische Beitrag wurde offenbar für die Politik des Judenstaates gegenüber den Palästinensern abgestraft.

Warum der im Vergleich zu den Vorjahren recht ordentliche "deutsche" Beitrag "I can't live without music" von Corinna May nur viertletzter wurde, bleibt angesichts etlicher besser plazierter Nullnummern unerklärlich.

Eigentlich müßte man den zur Mediengaudi verkommenen Schlagerwettbewerb unbeachtet lassen, wäre er nicht ein alarmierendes Signal: Noch prägen die vielfältigen Ausformungen des abendländischen Erbes das kulturelle Antlitz Europa. Doch der immer weiter wachsende Einfluß des Englischen und der angloamerikanischen Popkultur führt zu unübersehbaren Substanzverlusten.

Auch Ostmittel- und Osteuropa bleiben davon nicht verschont. Der diesjährige Grand-Prix-Gastgeber Estland ist ein anschauliches Beispiel, zumal dort die "Verwestlichung" weit fortgeschritten ist.

Schon vor dem Umbruch 1988-91 erfreuten sich westliche Kultureinflüsse - allen voran die Popmusik - großer Beliebtheit. Transportiert wurden sie über das finnische Fernsehen und Radio. Viele verstanden die neuen Töne als Ausdruck von Freiheit und Distanzierungsmöglichkeit gegenüber den russischen Besatzern und dem verstaubten Sowjetalltag. Gleichzeitig gab es jedoch auch andere musikalische Protestformen, die in estnischen Überlieferungen wurzelten und den Beinamen der "Singenden Revolution" hervorbrachten. Im Rückgriff auf die 1869 einsetzende Tradition der Sängerfeste bündelten die estnischen Massen ihre Unabhängigkeitswünsche in alten und neuen Volksliedern.

Das 21. Sängerfest im Jahre 1990 war mit rund 30 000 Sängern und einer halben Million Besuchern das größte aller Zeiten. Vier Jahre später versammelten sich immerhin noch 334 000 Zuhörer. Beim letzten großen Chorwettbewerb 1999 war die Teilnehmerzahl dann weiter rückläufig. Heute klagen fast alle Chöre und Volkstanzgruppen über Nachwuchssorgen. Daß die wiedergewonnene Souveränität inzwischen gesichert ist und es der Volksliedkultur als Massenprotest nicht bedarf, reicht als Erklärung für das abnehmende Interesse jüngerer Leute kaum aus.

Wichtiger erscheint die Tatsache, daß die rund ein Dutzend einheimischen Rundfunkstationen weitgehend angloamerikanische Titel spielen und die im Fernsehen und Kino beherrschenden ausländischen Filme zu 98 Prozent aus den USA stammen. Die Geschmäcker der Jugendlichen in Reval oder Dorpat gleichen heute weitgehend denen ihrer Altersgenossen in Helsinki, Berlin, Moskau und Los Angeles.

Die estnische Kulturlandschaft zeigt ein seltsam gemischtes Bild: Einerseits sind Musik, Theater und einheimische Buchproduktionen in ihrer ganzen Bandbreite sehr gefragt. Für die Schulen gehört es zum guten Ton, ihren eigenen Chor zu besitzen. Alljährlich finden zahlreiche kleine Sängerfeste mit Volksliedern und -tänzen statt. Klassische Musik, moderne Kompositionen inbegriffen, genießt breite Zustimmung. Komponisten wie Arvo Pärt oder Erkki-Sven Tüür konnten sich weltweit einen Namen machen.

Andererseits wäre es noch vor einem Jahrzehnt für die "Musikna-tion" Estland undenkbar gewesen, nicht mit einem muttersprachlichen Lied in einen Schlager-Grand-Prix zu gehen. Diesmal schickte man nicht mal mehr Esten ins Rennen, sondern die Schwedin Sahléne.

Vieles, was zu den Besonderheiten estnischer Nationalkultur gehört, ist langfristig gefährdet. Immerhin verleiht die Geschichte Mut, daß unverwechselbare Traditionen wie die Sängerfeste vielleicht doch nicht auf dem Altar angloamerikanischer Moden geopfert werden.

Das kleine Land mit seiner schon herkunftsmäßig ganz eigenen finno-ugrischen Bauernbevölkerung gehörte jahrhundertelang fremden Herren, die ihm ihren politisch-kulturellen Stempel aufdrückten. Dennoch überdauerte das estnische Volk und vermochte manches von seinem vorchristlich geprägten Kulturerbe in Liedern, Sagen und Bräuchen zu bewahren.