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01.06.02 / Hermann und Dorothea

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 01. Juni 2002


Hermann und Dorothea
Anmerkungen über den Dichter Sudermann und seine Mutter

Dorothea hieß sie, und der erwachsene Hermann Sudermann wird seine Mutter mit dem gleichen prüfend liebevollen Blick angeschaut haben wie Goethes Hermann die junge Dorothea, als sie ihre Gefährten und die Kinder in dem Flüchtlingszug am Rhein mit so viel Umsicht und Tatkraft versorgte.

Auch Dorothea Sudermann war eine tatkräftige Frau, so schildert der Schriftsteller sie in seiner Autobiographie "Das Bilderbuch meiner Jugend". Sie kochte, wusch, schneiderte, melkte die Kuh, half dem Vater in der kleinen Brauerei, hobelte und zimmerte, zunächst an dem kleinen Haus zwischen den Wäldern, in Matziken, in dessen Hinterstube das Hermannchen geboren wurde, später auf dem neu errichteten Grundstück in Heydekrug, dort zimmerte sie sogar die Vorlaube. "Vor dem Haus", so erinnert sich Sudermann, "waren auch noch, von Mutters Hand gezimmert, Holzbänke und Tische davor, um einkehrenden Ausflüglern, die sich eines Labetrunks bedürftig fühlten, willkommenen Ruheplatz zu bieten." Es gab zwar keine Ausflügler, die dort einkehrten, "aber der Mensch hofft, sagte meine Mutter, und das sagt sie auch heute noch, während die Franzosen als Herren des Memellandes vor ihren Fenstern spazieren gehen". Heute - das war geschrieben nach dem Ersten Weltkrieg, damals wurden als sogenannte Schutztruppe Franzosen in das Memelland geschickt.

Sudermanns Mutter war eine geborene Raabe, Dorothea Raabe, Tochter eines Kapitäns aus Pillau, der von einer Indienfahrt nicht mehr heimgekehrt war. Die Witwe hatte ihre fünf Kinder allein erzogen bis zur Selbständigkeit. Sie blieb eine Hoffende: jeden Tag stieg sie auf den Schwalbenberg, schaute über die Ostsee und den Pillauer Hafen; noch immer wartete sie auf die Rückkehr des Gatten.

Dorothea wird dies ihren Söhnen erzählt haben, als sie die Mutter zu sich nahm. Die vier Jungen - Hermann hatte drei Brüder - schliefen im Giebelzimmer nicht allein. Hinter dem Bettschirm hörten sie die Großmutter weinen. Waren die wilden Enkelchen wieder einmal zu laut gewesen, "daß eure arme Großmutter nicht schlafen kann", oder dachte sie an den Kapitän, ihren Mann, den das Meer verschlungen hatte?

Dorothea, die kleine, geschäftige Frau, wie der Sohn sie nennt, war nicht nur die geschickte Handwerkerin, die sorgende Hausfrau und Mutter, ihre liebevolle Zuwendung schenkte den Jungen die Wärme, die sie als Kinder brauchten, und noch bis ins hohe Alter wird ihre Herzlichkeit und Hilfsbereitschaft die Familie zusammengehalten haben. Der Vater war ernst und streng, der kleine Brauereibetrieb drohte oft zu erliegen.

Sudermann erinnert sich an das Hungerjahr 1867: Es gab nur Regen, immerzu Regen, im Frühjahr, im Sommer, bis zum Herbst. Anstatt Getreide lagen nasse Halme auf den Feldern, die Kartoffeln waren verfault, nur an einigen Stellen erntete man sie so winzig wie Haselnüsse. Bier konnte weder gebraut noch verkauft werden. Sudermann berichtete aus dieser schlimmen Zeit: "... viele, die waren noch weit ärmer als wir. Im Chausseegraben lagen sie familienweise und konnten vor Schwäche nicht weiter ... dann belagerten sie die Haustür und prügelten sich um den Eintritt. Meine Mutter teilte unser Letztes mit ihnen. Die Kartoffeln, so schorfig, so klein wie sie waren, wurden in Kesseln gekocht und an die draußen Stehenden verteilt."

Die kleinbürgerliche Herkunft und die Zeit der Armut bedrück-ten Sudermann sein ganzes Leben, obwohl er als Schriftsteller erfolgreich und begütert wurde. Selbst in seinen ruhmreichen Jahren zwischen 1890 und 1920 verfolgte ihn die Angst vor einem Rückstoß in die Armut. Er reiste viel, nach Italien, immer wieder nach Italien, nach Paris, nach Zürich und Wien, zu den Aufführungen seiner Bühnenwerke, und immer wieder in die Kurorte, um seine verstörten Nerven zu beruhigen, aber an all diesen Orten bewegten Eindrücke und Vorstellungskraft seine Phantasie - sie trieb ihn zur Arbeit. Er schrieb und schrieb: Romane, Theaterstücke, traurige und heitere. Die traurigen waren sehr traurig. Hatte die Mutter seinen Dichtersinn geformt, als sie dem kleinen Sohn anvertraute, sie liebe die traurigen Stücke mehr als die lustigen? Wird nicht vielleicht die Stimme der Mutter ihn noch im Alter angespornt haben, die ihn als Fünfjährigen mahnte, während sie ihm das Lesen in der Fibel beibrachte: "Sei fleißig, mein Jungchen, wenn du gut lesen und schreiben kannst, bekommst du zum Geburtstag den ,Kinderfreund'." Und wirklich, eines Tages kehrte sie vom Markt heim, küßte das Jungchen und überreichte ihm das ersehnte Buch, das nicht nur seine Wonne, auch sein Lehrbuch wurde.

Dorothea erkannte sehr bald, welch ein Wissensdurst in ihrem Sohn lebte. Die kleine Schule in Heydekrug würde ihn nicht stillen können. So schrieb sie heimlich einen Brief an die Verwandten ihres Mannes in Elbing: die Tante möge ihren Jungen in Pension nehmen, damit er in der Stadt die Realschule besuchen könne. Sie wird ein Angebot gemacht haben, denn die Tante erklärte sich bereit, Hermann für vier Taler im Monat zu versorgen.

Der Vater, zunächst ablehnend, willigte endlich ein. Er brauchte nur die Hälfte beizusteuern, die Mutter würde die andere Hälfte durch das Milchgeld aufbringen. "Dies Milchgeld hat noch zwanzig Jahre in meinem Leben eine Rolle gespielt, wenn das Messer mir ganz dicht an der Kehle stand, dann kam es als letzte Rettung dazwischen. Die eine Kuh, die uns im Stalle stand, hat alles geschafft ... wenn die Häuslichkeit versorgt war, durfte verkauft werden, und der Erlös davon floß in Mutterchens Tasche."

Die Elbinger Tante war eine Sparsame. Der Sekundaner aß ihr zuviel, die Sudermanns fand sie zu leichtsinnig! Wieder setzte die Mutter beim Vater durch, daß ihr Junge das Abitur in Tilsit machen sollte. Er durfte die Abschiedsrede halten, alle weinten, er sah die Mutter, "den Blick heimlichen Mutterstolzes, der mir in Seligkeit durch den Körper rieselte". In Königsberg wird er studieren. Noch ist er für den Vater der Herumtreiber, für die Mutter ist er der Begabte, an dessen Sieg sie glaubt. "Laß mich nur machen, Jungchen, durchsetzen werden wir es doch", das ist ihre Parole, die seine Laufbahn bestimmt hat.

Sudermann wird seine Familie in Heydekrug später unterstützen, eine fürsorgliche Liebe für das Mutterchen wird erkennbar in vielen der Briefe, die das Ehepaar Sudermann tauschte. Zum achtundachtzigsten Geburtstag fuhr Sudermann von Berlin nach Heydekrug. "Dieser Geburtstag (war) vielleicht der schönste und stolzeste, den Mutterchen je gefeiert hat. Es war, als ob die ganze Gegend sich verbunden hatte, ihr zu huldigen. Und ihre Frische, ihre Fähigkeit, Strapazen zu ertragen, erwiesen sich als geradezu fabelhaft ... und ich immer mang ... im Innern voll Dank und Zusammengehörigkeit ... Am nächsten Morgen kam das Abschiednehmen ... Das geliebte alte Menschenwesen in fassungslosem Schluchzen an meinem Halse hängen fühlen - oh, das tat weh", Dorothea Sudermann wurde 98 Jahre alt, im Mai 1923 verstarb sie.

Zwischen den Briefen haften zwei Fotographien: die eine zeigt den Sohn, die andere die Mutter, beide mögen im siebzigsten Lebensjahr sein. Die Ähnlichkeit ist sichtbar: die gleiche Form des Kopfes, das plastische Kinn, die dunklen Augen. Sudermann schaut uns düster an, der Mund ist ernst. Er ist noch ein Lebender, allein gelassen von Frau und Mutter. Dorothea blickt uns durch die Brillengläser mit klugen Augen an, ein freundliches Lächeln deutet auf Nachsicht: warum hat ihr Sohn nur so viele antike Statuen aus Italien nach Schloß Blankensee gebracht! Aber sie hat es geschafft: ihr Sohn ist ein berühmter Schriftsteller geworden. Ditha Wohlfahrt