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08.06.02 / Plötzlich gab's ein höllisches Getöse

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 08. Juni 2002


Plötzlich gab's ein höllisches Getöse
von Werner Krieger

In einem kleinen, beschaulichen Dorf, fernab von Autostraßen und Schienenverkehr, hatten meine Frau und ich für einen Kurzurlaub ein freundliches Quartier gefunden. Die späten Sommertage nahmen der Sonne ihre stechende Kraft, und die angenehme Frische der reinen Landluft lockte zu weiten Wanderungen in die ländliche Umgebung. Bequeme Wege führten immer wieder an Bauernhöfen vorbei. Welch ein mir noch seit Kindesbeinen sehr vertrauter, doch mit Worten nicht zu beschreibender Geruch beim Vorbeigehen an alten Scheunen oder an Stallungen, aus denen jedesmal, wenn Pferde sich der lästigen Bremsfliegen erwehrten, ein dumpfes Hufestampfen und metallenes Kettenrasseln zu hören waren. Diese Eindrücke und der Anblick der flachen, weiten und stillen Landschaft weckten eine Fülle unauslöschlicher Erinnerungen an das Ermland im einst so fruchtbaren Ostpreußen!

Kindheitserlebnisse sind oft fest verknüpft mit einem unverwechselbaren, typischen Geruch oder mit einer markanten, kennzeichnenden Tierstimme, so daß mit der vergleichbaren Sinneswahrnehmung auch das dazugehörende Erlebnis aus der Kindheit wieder lebendig wird - selbst nach Jahrzehnten, ganz eigengesetzlich, ohne eigenes Dazutun.

So erging es mir in diesen Urlaubstagen. Der Auslöser dafür war eine gewaltige, weithin schallende Tierstimme, und urplötzlich fiel mir eine brenzlige Begebenheit aus Kindertagen ein. Es handelte sich damals im Ermland, wie auch jetzt, um ein Tier mit kurzen Beinen und fächerförmigen Watschelfüßen. Auf seinem überlangen, schlanken Hals saß ein kleines Köpfchen mit blanken, stechenden Augen und mit einem zupackenden, wehrhaften Schnabel. Gemeint ist natürlich eine ganz gewöhnliche Gans!

Damals also, in einer schon lange zurückliegenden Zeit, da ich ein solches Schnattertier nur um eine Handbreit überragte, in jener Zeit sollte für mich eine Gans zu einem fauchenden und zischenden Ungeheuer werden. Sein drohender Schnabel schien mir so groß wie das Maul des Krokodils in meinem Tierbuch für Kinder. Ob dieses drachenähnliche Untier auch Feuer zu speien vermochte, wie mir aus Märchen sehr wohl bekannt war, dies freilich zu beobachten blieb mir keine Zeit. Ging nämlich der Gänsehals aus seiner "erhabenen" Höhe so "herablassend" in die Waagerechte und wurde dann auch noch, wie mir schien, dieser Hals lang und immer länger, dann lief eine Gänsehaut über meinen Rücken und ich Hals über Kopf auf und davon!

Doch nun wieder zurück in die Urlaubstage. Der tägliche Weg führte uns regelmäßig an einem schmucken, bäuerlichen Wohnhaus vorbei. Davor ein gepflegter Ziergarten mit blühenden Stauden und Blumenbeeten, die beidseits den Weg zur Haustür einfaßten. Ein buntes Blütengeranke wand sich am Haus bis zum niederen Dach empor. Topfblumen witzelten vielfarbig hinter den Fensterscheiben hervor. Ein anheimelndes Haus also, wie es sie außerhalb einer Stadt vieltausendmal gibt, nichts Auffallendes, alles aufs beste bestellt!

Auf der Rückseite des Anwesens ein sommerlich durchlichteter Hof mit allerlei Geräten für die Feldarbeit. Hühner scharrten, pickten, gackerten oder plusterten sich im pflegenden Sandbad. Alles war in sanft-verhaltener Bewegung. Abendstille könnte über alledem liegen, gäbe es da nicht auch noch zwei Gänse!

Schon lange, bevor sie ruheliebende Spaziergänger überhaupt sehen konnten, warnten sie mit einem ohrenbetäubenden Geschrei Haus und Bewohner und noch lange danach schimpften sie lauthals und deutlich triumphierend hinter uns her. Woher, so fragte ich mich oft, nahmen so "lilienweiße" Tierchen nur die Kraft, solch ein "höllisches" Getöse anzustimmen, pausenlos und ohne ein Sichtbarwerden von Atemholen. Was in ostpreußischen Dörfern der treue Hofhund, hatten hier die wachsamen Gänse zuverlässig übernommen.

Jedes Mal beim Vorbeigehen gab es dasselbe stimmgewaltige "Hörspiel". Wir hatten uns auch schon so richtig schön daran gewöhnt. Doch eines Abends - es war ein Sonnabend - schreckten und horchten wir auf. Unsere sonst recht lebhafte Unterhaltung verstummte. Angespannt spitzten wir die Ohren. Nichts, rein gar nichts, es war und blieb fast gespenstig still. Schreckensvisionen schossen uns durch Kopf und Herz. Man wird sie doch nicht etwa ...? Sonntagsbraten ...? Welcher Unhold könnte ...? Aber doch nicht gleich alle beide ...!

Gewißheit suchend, beschleunigten wir unseren Schritt, bogen um die Einfriedung und atmeten erleichtert auf. Da standen sie, alle beide, unversehrt und quicklebendig. Jede Gans hatte vor sich einen wassergefüllten Eimer stehen, wie man ihn auch zum Melken benutzte. Eine Wonne zu beobachten, mit wieviel Vergnügen jede Gans ihren Kopf immer wieder flink und tief in ihren Eimer eintauchte, um sodann mit sorgfältiger Hingabe über ihr weiches Federkleid zu streichen. Es war ein eifriges Auf und Nieder der Köpfe, zeitweise sogar im gleichen Takt, ähnlich einem aufziehbaren Blechspielzeug. Kein Zweifel, das hatten diese Gänse schon sehr oft und sicher gerne getan. Vielleicht hatten sie anfangs noch die Illusion, sie würden auf einem Teich gründeln, doch mit der Zeit wurde daraus eine nützliche Körperpflege. Statt zu gründeln ohne Nutzen, tun sie sich jetzt gründlich putzen!

Hatten die Gänse die Woche über Haus und Hof bewacht und gesichert, so galt jetzt, das Haus als schutzgebende Sicherheit hinter sich, ihre ungeteilte Aufmerksamkeit einzig und allein und weltentrückt dieser "spritzigen Kopfarbeit". Somit fand diese Geschichte, manch banger Befürchtungen zum Trotz, dennoch ein gutes Ende. Mir aber wurde eine in tiefe Vergessenheit gefallene Erinnerung wieder schmunzelnd und dankbar bewußt.