19.04.2024

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08.06.02 / Gedanken zur Zeit: Vertreibung aus dem Geschichtsbuch

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 08. Juni 2002


Gedanken zur Zeit: Vertreibung aus dem Geschichtsbuch
Rüdiger Goldmann über unübersehbare Mängel in der deutschen Schulbuchliteratur

Seit Jahrzehnten wird die unzureichende und zum Teil mangelhafte Darstellung des Flucht- und Vertreibungsgeschehens in deutschen Geschichtsbüchern beklagt, ohne daß die Kultusminister wirksame Abhilfe schaffen, ja sie können sich noch nicht einmal über die Darstellung Deutschlands einigen.

Nun könnte man annehmen, daß nach den großen Fernsehserien, vielen neuen Veröffentlichungen über dieses Thema (Knopp, Grass, Brandes, Lemberg, Stanek, Pustejowsky, de Zayas, Slapnicka, Grulich, Hoffmann, Harasko etc.) hier ein Wandel eingetreten sein könnte.

Mit Neugier greift man daher nach der neuesten Ausgabe von "Zeiten und Menschen", Band 4, aus dem Schöningh-Verlag in Paderborn. Für sie zeichnen mehrere Autoren verantwortlich, ohne daß die einzelnen Kapitel ihnen namentlich zugeordnet werden können.

Graphisch, von der Bebilderung und der Gliederung her ist das Buch übersichtlich und schülerfreundlich gestaltet. Das Begriffsverzeichnis jedoch ist recht mager geraten. Weder dort noch im Register taucht z. B. der Begriff der Menschenrechte auf, auch die "Allgemeine Erklärung der Menschenrechte" von 1948 sucht man vergebens. So verwundert es nicht, daß zwar ein Auszug aus der tschechoslowakischen Charta 77, nicht aber die "Charta der deutschen Heimatvertriebenen" des Jahres 1950 zitiert wird.

Während nun überraschenderweise die Vorgeschichte des Münchner Abkommens bzw. die des Sudetenlandes (auch mit einer Karte) einigermaßen zutreffend - jedoch ohne Zahlenangaben und ohne Hinweis auf die verfehlte tschechoslowakische Politik - wiedergegeben wird, häufen sich danach für die Jahre 1945/46 die Ungenauigkeiten und Fehler. Da wird auf Seite 139 eine Statistik der Toten des 2. Weltkrieges abgedruckt, die sehr zweifelhafte Angaben enthält. Die Verluste der deutschen Zivilbevölkerung werden aufgeteilt in Verluste der Bevölkerung des Deutschen Reiches und der "Volksdeutschen", wobei völlig unklar bleibt, was unter den letzteren zu verstehen ist. In einer Anmerkung wird darauf verwiesen, daß andere Schätzungen höher liegen, jedoch ohne daß diese Angaben gemacht werden. Kaum zu glauben ist die Angabe, daß in Italien 4,2 Millionen Menschen der Zivilbevölkerung ums Leben gekommen seien.

Problematisch ist auch die Beschriftung der Karte auf der gleichen Seite, wo von der "Befreiung Europas" die Rede ist. Dies kann ja im Hinblick auf die sowjetische Eroberungspolitik keinesfalls gesagt werden.

Auch die Karte auf Seite 205 ist unvollständig und zum Teil falsch, da die Nationalitätenverhältnisse in Ostmitteleuropa nicht genau angegeben werden und auch der Begleittext unklare und zum Teil falsche Angaben enthält.

Während der Gebietsumfang "Ostpolens" genau benannt wird, ist fälschlicherweise von "Millionen Polen" die Rede, die ihre Heimat verlassen mußten. Das dort verwendete Zitat "planvoll umgesiedelt" ist nicht belegt. Im Potsdamer Protokoll gibt es diese Aussage nicht. Und was soll man von dem Satz halten: "Insgesamt verloren über 12 Millionen Menschen in Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn ihre Heimat/Seite 204?" Nein, die Deutschen wurden aus den ostdeutschen Gebieten, dem Sudetenland und Südosteuropa vertrieben, nur zum geringeren Teil aus Polen und der Tschechoslowakei. Jugoslawien ist den Verfassern in diesem Zusammenhang auch nicht erwähnenswert.

Besonders zu kritisieren ist jedoch, daß hier die Verantwortlichen für die Vertreibung nicht benannt werden, weder die Schreibtischtäter noch die aktiv tätigen Vertreiber. Es fehlen die Namen von Josef Stalin, W. S. Churchill, E. Ochab, Eduard Benes, Josip Tito, E. D. Roosevelt etc. Es fehlen die staatsterroristischen Maßnahmen, die Flucht und Vertreibung auslösten und begleiteten. Während bei den deutschen Verbrechen stets nach den Tätern, den Verantwortlichen, der Sicht der Opfer gefragt wird, wird dies bei Flucht und Vertreibung ausgeblendet.

Und danach verschwinden diese deutschen Gebiete völlig aus der weiteren Darstellung der Geschichte. Von der totalen Entrechtung und Enteignung der Vertriebenen und der zurückgehaltenen deutschen Bevölkerung ist nicht die Rede, man beschränkt sich auf die Geschichte der beiden deutschen Staaten.

Immerhin wird auf Seite 208 ein Vertreibungsbericht aus dem Memelland abgedruckt. Man nimmt dies zum Anlaß einer Zeitzeugenbefragung, ohne daß das Geschehen von Flucht und Vertreibung in allen seinen Dimensionen erörtert würde. Hier müßte ein ganzes Kapitel zu diesem Thema folgen, die Charta der Vertriebenen, ihr Anteil am sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Aufbau des westlichen Deutschland, der Republik Österreich, ihr Anteil an der Aufrechterhaltung des Einheitsgedankens, ihr Anteil an der Abwehr der kommunistischen Ideologie und der sowjetkommunistischen Expansionspolitik.

Nichts dergleichen ist in diesem Buch zu finden. Die "westdeutsche" Nabelschau herrscht vor. Während dem "2. deutschen Staat" bis zu seinem Untergang und seinem Zusammenschluß mit dem westlichen Deutschland zahlreiche weitere Kapitel gewidmet werden, verschwinden die Ostgebiete und das Sudetenland ab 1945 im Orkus der Geschichte. Auch die Entscheidung zum Verzicht auf diese Territorien im 2+4-Vertrag und den Grenzanerkennungs- bzw. Nachbarschaftsvertrages ist kaum noch eine Zeile wert.

Das Schicksal von 17 Millionen Deutschen wird in "Zeiten und Menschen" unzureichend berücksichtigt. Die gegebene Darstellung ist zum Teil fehlerhaft und weist große Lücken auf.

Es ist die Frage, wer dafür verantwortlich ist und weiter, wie dies geändert werden kann.

Verantwortlich sind neben den Autoren und dem Verlag die Landesregierungen bzw. Kultusminister (in NRW Frau Behler, die mit der deutschen Nation stets auf Kriegsfuß stand), die die Schulbücher genehmigen. Aus den genehmigten Verlagsangeboten können sich die einzelnen Schulen die Bücher auswählen, für die einzelnen Fächer entscheiden dies die Fachkonferenzen.

Da die Arbeitsgemeinschaften für die "Ostkunde im Unterricht" heute kaum noch aktiv sind, müßten Schulbuchkommissionen eingesetzt werden, die diese Lücken aufarbeiten. Dies ist jedoch in Privatinitiative kaum zu leisten, und es ist im übrigen eine originäre Aufgabe der Ministerien für Kultur, Schule und Wissenschaft. Diese Aufgabe muß in Angriff genommen werden, wenn das deutsche Geschichtsbild, aber auch das Osteuropas und seiner Völker nicht in unverantwortlicher Weise verkürzt und entstellt werden soll.