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06.07.02 / Familienkongreß: Investitionen in die Zukunft

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 06. Juli 2002


Familienkongreß: Investitionen in die Zukunft
Experten aus zehn Ländern diskutierten in Berlin über den Weg unserer Gesellschaft
von Jürgen Liminski

Bildung ist zurzeit das Megathema des politischen Diskurses. Zu einem "Bildungsgipfel" eigener Art kamen in diesen Tagen Wissenschaftler, Politiker und Unternehmer unter der deutsch-französischen Schirm- herrschaft der Präsidenten Jacques Chirac und Johannes Rau zusammen, um dieses Thema nicht nur als Ergebnis von Wissensvermittlung, sondern auch in seinem umfassenden Sinn als Menschenbildung zu erörtern. Anlaß bieten die diversen Resultate der Pisa-Studie, aber auch die Voraussetzungen für das Lernen, die von der Pisa-Organisation, der OECD, bereits in früheren Studien aufgelistet und verglichen wurden. Der Kopf der Pisa-Studie, der deutsche Statistik-Experte Andreas Schleicher, stellte sie auf dem Expertengipfel im Haus der deutschen Wirtschaft in Berlin vor. Er nahm teil an einer von vier Podiumsdiskussionen des Fachkongresses "Demographie und Wohlstand".

Der Untertitel dieser europäischen Fachtagung mit rund 200 Teilnehmern aus zehn Ländern, veranstaltet von einer europäischen Bürgerbewegung unter Federführung des Deutschen Arbeitskreises für Familienhilfe e.V., der Internationalen Stiftung Humanum und der französischen Frauenorganisation Femmes de Demain, ließ erkennen, wo nach Meinung der Experten der Ausweg aus der Misere im Problemfeld zwischen Demographie, Wirtschaft und Bildung liegen könnte. Er lautete: Neuer Stellenwert für Familie in Wirtschaft und Gesellschaft.

Dieser Stellenwert leitet seine Begründung aus der von namhaften Wissenschaftlern dargestellten Tatsache ab, daß vor allem die Familie der Ort ist, an dem das Humanvermögen gebildet wird, das Wirtschaft und Gesellschaft brauchen, erstere zur Produktion, letztere zum Leben. Weniger Menschen bedeutet weniger einsetzbares Humanvermögen, und wenn dann noch die vorhandenen Kinder nicht die Kompetenzen zur Lösung von Alltagsproblemen sowie die Fähigkeit zum Lernen und zur Anwendung des Gelernten erhalten, sprich wenn sie nicht entsprechend erzogen und ausgebildet werden, dann wird das Humanvermögen zur Mangelware. Der amerikanische Nobelpreisträger Garry Becker, der den Begriff des Humankapitals in die Wirtschaftswissenschaft eingeführt hat, plädierte deshalb für eine Aufwertung der Erziehungsarbeit durch ein Erziehungseinkommen - aus dem Mund eines weltweit bekannten liberalen Ökonomen eine kleine Sensation. Becker sieht den Grund für diese Forderung in den Bedürfnissen der Wirtschaft nach nicht nur gut ausgebildeten, sondern auch teamfähigen, lernwilligen, flexiblen, selbständig denkenden, hilfsbereiten Mitarbeitern. Solche sozialen Kompetenzen erwerbe der Mensch vor allem in der Familie, deshalb "können Schulen die Familie nicht ersetzen".

Der frühere Verfassungsrichter Paul Kirchhof ergänzte: Diese Staatsleistung müsse im Interesse des Staates erfolgen, der verfassungsrechtliche Schutz gelte auch für das Kind, und diese Leistung sei auf das Kind auszurichten. Dem habe die Politik sich bisher versagt. Die familienpolitisch relevanten Urteile aus Karlsruhe seien "bis heute ein unerfüllter Verfassungsauftrag". Die Leistung rechne sich außerdem. Ein Kindergartenplatz kostet den Staat heute bereits mehr, als jedes Modell für ein Erziehungsgehalt vorschlage, und die persönliche Beziehung erübrige die psychologische Betreuung. Ein Kind zu erziehen sei eine zentrale Kulturleistung, von der der Staat lebe. Die Arbeit der Mütter aber werde der Schattenwirtschaft zugerechnet, Mütter sozusagen nur noch als Schatten wahrgenommen, ähnlich dem Bonmot, das der Nationalökonom Friedrich List schon vor mehr als 150 Jahren aussprach: "Wer Schweine erzieht, ist ein produktives, wer Menschen erzieht, ein unproduktives Mitglied der Gesellschaft."

Der Faktor Familie, ein veritables Unternehmen, wie der französische Professor Jean Didier Lecaillon aus Paris ausführte, war von Anfang an, seit Adam Smith, aus der Wirtschaftswissenschaft ausgeklammert worden. Die Korrektur heute verlangt ein Umdenken, das der Wende eines Tankers in einem Fluß gleicht. Aber es ist nötig, meinen Becker und die anderen Experten. Bildung und Erziehung seien die effektivste Art der Kapitalinvestition. Daran entscheide sich die Zukunftsfähigkeit eines Landes. Der sächsische Ministerpräsident Prof. Georg Milbradt machte folgende, rein ökonomische Rechnung auf: Die Kosten für ein Kind in einem Heim belaufen sich pro Tag auf 75 Euro. Das mache pro Jahr rund 30.000 Euro aus. Soviel gebe keine Familie für Versorgung und Erziehung eines Kindes aus. Wer in die Familie investiere, der spare schlicht Geld und könne in andere Projekte investieren.

In diesem Sinn sprachen sich auch andere Wissenschaftler aus und wiesen außerdem auf eine weitere, hauptsächliche Ursache für die Verknappung des Humankapitals hin: den demographischen Schwund. Der Direktor des Instituts für Bevölkerungsforschung und Sozialpolitik der Universität Bielefeld, Prof. Herwig Birg, präsentierte anhand einer Fülle von Daten die verbliebenen Optionen einer Familien- und Migrationspolitik in Deutschland und Europa. Der Präsident des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung in München, Prof. Hans Werner Sinn, nannte weitere Gründe für das demographische Defizit in Deutschland und zog daraus sozialpolitische Folgerungen. Er stellte ein neues Rentensystem vor, das vermutlich nach der Wahl lauter diskutiert werden wird, aber schon jetzt von Wissenschaftlern anderer Länder, etwa dem ebenfalls teilnehmenden französischen Rentenexperten Prof. Jacques Bichot, unabhängig von Prof. Sinn entwickelt wurde. Es basiert auf einer privaten Kapitalbildung, in die auch die Kinderzahl als Humankapital einfließt. Auf diese Weise würde die Erziehung von Kindern zu Rentenansprüchen führen.

Die Politik blieb bei ihren festgefahrenen Meinungen. Sie drückten sich aus in Grußworten des Kanzlers und seines Herausforderers. Für die SPD ruht der Schwerpunkt auf der staatlichen Hilfe, für die Union auf der Wahlfreiheit. Beiden Seiten geht es um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Die Politiker Kurt Beck, Christa Stewens, Harald Schartau deklinierten diese Ansichten durch. Einen anderen, wirtschaftlichen Ansatz trugen Hans Geisler aus Sachsen und die Familienminister von Norwegen und Ungarn vor. Sie plädierten für ein Erziehungseinkommen und auch für mehr Angebote zur Erhöhung der Erziehungskompetenz von Eltern (Geisler).

Überhaupt scheint man im Osten der Bundesrepublik, insbesondere in Sachsen, die Problematik der alternden Bevölkerung schärfer und umfassender im Blick zu haben als im Westen. Ministerpräsident Milbradt erinnerte daran, daß auf dem Gebiet der früheren DDR heute bereits weniger Menschen leben als vor dem Zweiten Weltkrieg. Auch sei die Bevölkerung im Durchschnitt um zwei Jahre älter als im Westen. Das erfordere ein Umdenken, "denn wir waren es in Politik und Gesellschaft jahrzehntelang gewohnt, mit Wachstum umzugehen, ja Wachstum zu verwalten. Uns fehlt die Erfahrung, wie man mit einer abnehmenden Bevölkerung als Land leistungsfähig bleibt". Sachsen gehöre zu den Regionen, "die früher als andere Regionen in Europa vor der umfassenden demographischen Herausforderung stehen". Aber statt zu jammern, empfiehlt Milbradt beherztes Handeln. "Wenn wir schon früher als andere gezwungen sind, uns mit einer alternden Gesellschaft dem Wettbewerb der Regionen zu stellen, wollen wir dies nutzen und versuchen, den demographischen Wandel als Chance zu begreifen." Das bringe Wettbewerbsvorteile.

Milbradt verdeutlichte diese Sicht am Beispiel der Bildung. Die Zahl der Schüler nimmt bereits seit 1996 deutlich ab. Heute liegen die Schülerzahlen in Sachsen schon rund ein Fünftel unter dem Stand von 1993. Und eine weitere rasante Abnahme der Schülerzahlen steht noch bevor: 2010 wird Sachsen nur noch halb so viele Schüler wie 1993 haben. Anders im Westen: Dort wird aus verschiedenen Gründen die Schülerzahl bis 2010 nicht unter das Niveau von 1993 absinken. Der demographische Wandel zieht enorme Folgen auch für den Hochschulsektor nach sich.

Angesichts dieses Szenarios, so Milbradt, "haben wir in Sachsen in den vergangenen Jahren bereits damit begonnen, das Bildungsangebot kontinuierlich an die geringere Nachfrage anzupassen. Wir haben Schulen schließen müssen. Wir haben Lehrer zu Teilzeitarbeitsmodellen bewegen müssen. Gegenwärtig legen wir in Sachsen ein neues Schulnetz fest, das einerseits noch finanzierbar ist und andererseits in erreichbarer Entfernung qualitativ gute Schulangebote gewährleistet". Auch bei den Hochschulen seien bereits jetzt schmerzliche Eingriffe unvermeidbar.

"Wir in Sachsen nutzen den Schülerrückgang, um unser Bildungsangebot weiter qualitativ zu verbessern. Wir wollen weniger Kinder besser unterrichten!" Dieses Prinzip gelte auch für die Hochschulen. "Klasse statt Masse" also beim Bildungsangebot. Denn bei der knappen Ressource "Jugend" könne es sich keine Gesellschaft leisten, Begabungen nicht zu erkennen und nicht zu entwickeln. Auch im Bereich der Wirtschaft fordert Milbradt ein Umdenken. Angesichts des zunehmenden Lebensalters großer Teile der Bevölkerung und der Fortschritte bei der Erhaltung von Leistungsfähigkeit und Vitalität sei das Lebensalter immer weniger Indiz für die Leistungsfähigkeit eines Menschen. Kreativität sei kein Privileg der Jugend, und die Menschen könnten heute sehr viel länger leistungsfähig bleiben. Innovationskraft und Wettbewerbsfähigkeit einer Gesellschaft nehmen deshalb heute nicht mehr zwangsläufig mit dem Anstieg ihres Durchschnittsalters ab.

Allerdings setzt dies Veränderungsbereitschaft voraus: Man brauche eine Arbeitsorganisation, die auf Ältere zugeschnitten ist. Man brauche neue Methoden, die lebenslanges Lernen ermöglichen. Man brauche ferner neue Modelle, um Familien- und Berufspflichten miteinander vereinbaren zu können, und man brauche neue Formen, um einen gleitenden Übergang vom Erwerbsleben in den Ruhestand zu ermöglichen. Milbradt: "Die Alterspyramide steht auf dem Kopf. Das zwingt uns, auch alle anderen Regeln, Schemata und Schablonen auf den Kopf zu stellen. Ich bin davon überzeugt: Wenn wir es richtig machen, braucht eine ältere Gesellschaft den Wettbewerb mit jüngeren Gesellschaften nicht zu fürchten."

Während Sachsen sich also gezwungenermaßen früh auf den demographischen Wandel einstellt, scheinen die westlichen Länder Deutschlands und auch in ganz Europa in die "Falle der Kurzsichtigkeit" (Prof. Dumont, Sorbonne) zu tappen. Erziehungs- und Familienarbeit seien "Produktionen" auf mittlere und längere Sicht, die Wirtschaft aber denke in Jahresbilanzen, die Politik allenfalls in Wahlperioden. "Wenn der Mensch nicht mehr im Mittelpunkt steht, dann kommen die Kurzzeitdenker zum Zug, und ihnen auf dem Fuß folgt die kulturelle Verarmung." Ohne Erziehung, ohne Kinder gebe es weniger Weitergabe von Werten und Traditionen. Das sei so, wie wenn man eine Bibliothek von hunderttausend Bänden auf zehntausend Wirtschaftsbücher verringere. Man könne damit im Moment leben, aber der kulturelle Reichtum versiege. Eine Gesellschaft, die, so der Trendforscher Prof. Wippermann, sich mehr um Friedhöfe als um Kindergärten kümmere und es sich in einer enkelfreien Zone wohl ergehen lasse, trage den Hautgout der Endzeit.

Gar nicht kurzsichtig, sondern im Gegenteil mit dem historisch geschärften Blick für große Zusammenhänge und soziale Fragen betrachtet die katholische Kirche die Entwicklung. Aus dem Vatikan kam ein Grußwort des Papstes für die Teilnehmer des Kongresses, das die Bedeutung der Familie für die "innere Festigkeit" der Gesellschaft betonte. Die "Erfahrung zeigt, daß Zivilisation und Festigkeit der Völker vor allem durch die menschliche Qualität ihrer Familien bestimmt werden. Die Kirche ist zutiefst davon überzeugt: Die Zukunft der Menschheit geht über die Familie". Auch der Papst spricht von der "Notwendigkeit eines neuen Stellenwertes für die Familie" angesichts der "besorgniserregenden demographischen Entwicklung in Europa und ihren absehbaren Folgen für Wirtschaft, Staat, Sozialversicherungen und schließlich den allgemeinen Wohlstand der Menschen dieses Kontinents". Es sei zu hoffen, daß "von den Erkenntnissen des Kongresses Impulse für eine erneuerte Familienpolitik ausgehen, die der Familie als Grundzelle der menschlichen Gesellschaft den richtigen Stellenwert beimißt und ihr die bestmögliche Förderung zukommen lässt."

Wie kann das aussehen? Der Mensch muß wieder im Mittelpunkt des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Geschehens stehen, besser: dorthin gestellt werden. Wie das geht, erläuterte Michel Edouard Leclerc, der Präsident der französischen Einzelhandelskette Leclerc (85.000 Mitarbeiter, 25 Milliarden Euro Umsatz). Die Unternehmensgruppe expandiere derzeit nach Italien, Polen, Slowenien und andere Länder Europas, die akzeptierten, daß man sonntags nicht öffne, weil der Sonntag der Familie gehöre. Auch die Angestellten hätten Familie, und deren Stabilität sei wichtig, für das Unternehmen und die Gesellschaft. Die Familie dürfe nicht länger instrumentalisiert werden. Ein Einzelhandelsunternehmen wie Leclerc sei eine Plattform der Beobachtung gesellschaftlichen Verhaltens. Aber durch sein Angebot präge und beeinflusse es auch dieses Verhalten. So habe man beschlossen, keine Waffen zu verkaufen - "nicht alles ist verkaufbar" - und auf aggressive, sexistische Werbung zu verzichten. Man wolle demnächst betreute Spielräume anbieten, damit die Eltern in Ruhe einkaufen können, wenn sie das wollen. Das Unternehmen investiere in die soziale Umwelt, fördere Sportvereine und Freizeitclubs, es nehme damit teil an der Produktion von Humanvermögen. Es gehe darum, eine Partnerschaft zwischen Käufer und Handel, zwischen Konsument und Unternehmer, zwischen Familie und Unternehmen zu entwickeln. So rücke der Mensch wieder in den Mittelpunkt.

Diese neue Partnerschaft zwischen Familie und Wirtschaft, gepaart mit einem Erziehungseinkommen, das dem Familienmanagement (früher: Haushalt) im Wirtschaftskreislauf und in den Berechnungen des Bruttosozialprodukts statistischen Rang verleihen würde, könnte eine Wende bewirken. Die Gesellschaft in Europa, die derzeit demographisch und wirtschaftlich auf einer schiefen Ebene nach unten rutscht, könnte sich stabilisieren. Bewußt hat der Kongress mit der doppelten deutsch-französischen Schirmherrschaft darauf hingewiesen, daß die Europäer in einem Boot sitzen. Nur gemeinsam können sie, so die Botschaft von Berlin, diese Herausforderung bewältigen. In Frankreich dürfte man jetzt, nach den Wahlen, ein offeneres Ohr für die Problematik haben, in Deutschland nach den Wahlen vielleicht auch.

Auf der Suche nach Lösungen: Der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Beck im Gespräch mit dem Sozialethiker Professor Ockenfels. Foto: Liminski