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13.07.02 / Das Märchen von den Kurenkähnen

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 13. Juli 2002


Das Märchen von den Kurenkähnen
von Ruth Geede

Die Haffkähne der Fischer von der Kurischen Nehrung, diesem schmalen Landstrich zwischen Haff und See, sehen merkwürdig aus. Weil das Haff weit hinaus sehr flach ist, haben sie keinen Kiel sondern sind platt wie ein Tisch, damit sie dicht an den Strand fahren können. Ihr Bug ist hochgezogen wie bei alten Wikingerbooten. Auf dem Hauptmast steht ein eigenartiger Wimpel, der aus Holz geschnitzt ist und allerlei buntbemalte Figuren zeigt: Haus, Kirche, Elch, Kreuz, Anker, Kahn, Mann und Frau. Erst am Ende flattert dann der Tuchwimpel, der durch seine Farben den Heimathafen zeigt.

Eines Morgens - vor sehr langer Zeit - fuhren in aller Frühe die Kähne eines kleinen Nehrungsdorfes auf das Haff hinaus. Es waren nicht nur die Fischer in den Booten sondern auch Frauen und Kinder, ganze Familien mit Küchengerät und Bettzeug, und fast sah es aus, als wollten sie ihr Dorf verlassen. Aber es war in der Zeit der Heuaust, und die Fischer fuhren über das Haff an das andere Ufer, zur Niederung auf dem Festland. Dort besaßen sie fruchtbare Wiesen, die es in dem Dorf im Dünenbogen nicht gab.

Das Vieh wurde im Sommer auf die Palve getrieben, diesen mit Gestrüpp, Kräutern und mageren Gräsern bewachsenen Uferstreifen zwischen den Wassern und den hohen Sanddünen, die sich über die ganze Nehrung in lichtgelber Kette zogen. Und eine riesige Düne bedrohte auch das kleine Fischerdorf.

Heute war es menschenleer, denn alle Bewohner fuhren zum Heuen. Nur die alte Witwe Schekahn war zu Hause geblieben, weil ihre Füße sie nicht mehr tragen wollten. Und der Hirtsjunge, der mit seinen Kühen auf die Palve gezogen war.

Die Stimmung auf den Kähnen war fröhlich, denn wenn es auch arbeitsreiche Tage waren, die vor den Menschen lagen, so freuten sie sich auf die fruchtbare Niederung mit ihren satten Wiesen, auf denen die Kühe bis zum Bauch im Gras standen. Um die Mittagszeit hatten alle Boote auf dem Festland angelegt, und die Jungen und Mädchen sprangen ausgelassen in das flache Wasser und tobten dann durch die Wiesen. Die Männer trugen Steine zusammen und bauten Feuerstellen, auf denen die Frauen kochen konnten.

Am Nachmittag ging dann die Arbeit los, die bis in den späten Abend dauerte, denn es war ja die Zeit der hellen Nächte. Die Sensen wurden gedengelt, und mit breiten Schritten gingen die Männer, einer schräg hinter dem andern, mähend über die weiten Wiesen. Die Frauen, deren weiße Kopftücher weithin leuchteten, folgten ihnen mit ihren großen Rechen, um das Gras zusammen zu harken. Es war eine schwere Arbeit, die eine volle Woche dauerte, aber sie machte ihnen Freude, denn der Himmel blieb wolkenlos, und es schlief sich herrlich unter dem besternten Nachthimmel in dem weichen, duftenden Heu. Dann wurden die Kähne mit dem Heu hoch beladen und die Rückfahrt angetreten.

In breiter Reihe zogen die Boote der Nehrung zu, nur ein Fischer, Kalweit hieß er, lag ein Stück voraus. Plötzlich jedoch bemerkten die Fischer, daß sich der Abstand zwischen ihren Kähnen und dem Boot des Kalweit verringerte. Der Wind wehte stark vom Festland, so daß die Fahrt schnell ging, schon kam das Heimatdorf in Sicht.

Warum denn nur fuhr Kalweits Kahn nicht weiter? Hatte er Anker geworfen und warum? Nein, der Anker hing, die Segel blähten sich im Wind. Die Menschen auf dem Kahn blickten in das Wasser und schienen ratlos zu sein.

Die anderen Boote kamen näher, teilten sich, um den reglosen Kahn in die Mitte zu nehmen. "Was ist los?" riefen die Fischer, während sie vorbeisegelten.

Nein - auch sie kamen nicht weiter. Mit jähem Ruck hielten alle Kähne, tanzten in einer Reihe auf dem Wasser und kamen nicht von der Stelle, nur einen guten Steinwurf weit vom Ufer entfernt. Sie hatten sich keineswegs festgefahren, sie lagen nicht auf Grund, noch nie hatte es hier eine Untiefe gegeben.

Einige junge Fischer kletterten an den Stricken, die das Heu hielten, zum Wasser hinab und versuchten, die Ursache für dieses seltsame Geschehen zu finden. Man suchte vergeblich eine Erklärung für den plötzlichen Stillstand der Kähne bei kräftigem Wind. Von Boot zu Boot wurde über das Unbegreifliche gesprochen. Niemand fand eine Lösung, und alle waren ratlos.

Fischer Kalweit wurde die Sache zu dumm. Es gelang ihm, seinen Kahn zu wenden und seitab von den anderen Booten zu kreuzen. Als er aber wieder Kurs auf die Nehrung nehmen wollte, hob sich der Bug und der Kahn bäumte sich wieder wie ein Pferd, das Unheil wittert. Er schwankte so stark, daß die Frauen und Kinder oben im Heu aufschrien und sich an den Stricken festklammerten. Und dann scherte das Boot aus und trieb bis zu der Stelle abseits des Dorfes, wo die Palve begann, hinter der ein kleines Wäldchen lag. Dort ließ sich der Kahn steuern, und der Fischer brachte ihn sicher an Land.

Hinter ihm hatten auch die anderen Kähne beigedreht und waren Kalweit gefolgt. Als sie an der Palve aus den Booten sprangen, merkten sie, daß der junge Schekahn fehlte. Er war unbemerkt in das Haff gesprungen und an Land geschwommen, denn er hatte Angst um seine gelähmte Mutter.

Die Männer liefen am Strand entlang zum Dorf. Kurz vor dem ersten Gehöft kam ihnen der junge Schekahn entgegen, der seine Mutter auf dem Rücken trug. "Die Düne", schrie er, "die Düne kommt! Rettet, was ihr könnt!"

Das Dorf lag da wie ausgestorben. Die Männer liefen zu ihren Hütten und rissen die Türen auf, die schon halb zugeweht waren. Die Frauen, die ihnen gefolgt waren, trieben die Hühner aus den versandenden Gärten und holten aus ihren Häusern, was sie tragen konnten. Keuchend schleppten die Menschen das gerettete Gut zur Palve oder beluden damit die Handkähne am Strand, um sie im seichten Haffwasser zur Palve zu ziehen.

Als der Abend kam, waren sie so müde, daß sie sich im Schatten des Wäldchens zusammenkauerten und kein Wort sprachen. Der Hirtsjunge war mit seiner Herde gekommen, und die Kühe legten sich ohne Laut auf die Erde.

Nichts war zu hören als das hohe, unheimliche Sirren, das in der Luft hing. Es knisterte überall wie von fallenden Regentropfen. Das waren Sandkörner, die auf den Boden rieselten. Der Wind hatte sich gedreht und kam von der See her, wurde zum Sturm und peitschte das Haff.

Erst gegen Morgen wurde er schwächer, und allmählich ließ er nach. Im frühen Licht sahen die Menschen, daß die große Düne nicht mehr über dem Dorf stand. Sie lag da, breit hingelagert wie ein riesiges gelbes Tier, und hatte Hütten, Schober und Gärten unter sich begraben. Ihre langen Arme griffen weit in das Haff bis zu der Stelle, an der die Kurenkähne die Weiterfahrt verweigert hatten.

Die Menschen auf der Nehrung erzählten noch lange, nachdem sie ihr Dorf an anderer Stelle wieder aufgebaut hatten, die Geschichte von den Kurenkähnen, die das große Unglück vorausgeahnt und die Fischer gewarnt hatten. Späteren Generationen klang das Erzählte wie ein Märchen, und so haben wir es auch genannt. n

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Nach einer Erzählung von Heinrich Eichen. Mit weiteren von Ruth Geede gesammelten und erzählten Märchen aus dem Bernsteinland ist es auf einer CD erschienen (Litraton, Grete Schulga, Herbert-Weichmann-Straße 27, 22085 Hamburg. ISBN 3-89469-598-6, Laufzeit 65 Minuten, Booklet mit den vollständigen Texten, 14,90 a).

 

Georg Gelbke: Abendliches Ungestüm (Aquarell, 1937). Motive von der Kurischen Nehrung, geschaffen von Georg Gelbke (1882-1947) und Richard Birnstengel (1881-1968), sind noch bis zum 6. August in der Neuen Chemnitzer Kunsthütte, Hohe Straße 31, zu sehen. Die Ausstellung unter dem Titel Ostseebilder, zu der auch ein Begleitbuch im Husum Verlag erschien (48 Seiten, 9,95 a), ist dienstags bis freitags von 10 bis 18 Uhr und am Wochenende 11 bis 17 Uhr geöffnet. Im kommenden Jahr soll sie auch im Ostpreußischen Kulturzentrum im Deutschordensschloß Ellingen zu sehen sein. Foto: Katalog