20.04.2024

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13.07.02 / Der Wasserturm steht noch

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 13. Juli 2002


Der Wasserturm steht noch
von Heinz Glogau

Als ich auf einer Geburtstagsfeier so nebenbei erwähnte, daß ich auf einem Dorfbahnhof geboren sei, grinste Enkel Falko und meinte: "Am Hauptgleis oder am Rangiergleis?" - Sagen muß ich noch schnell, daß meine fünf Kinder, zwei Schwiegertöchter und drei Schwiegersöhne mir zehn Enkel beschert haben, die wiederum dabei sind, sich nach Partnerinnen bzw. Partnern umzuschauen. Falko ist da noch der Zweitjüngste.

"Paß auf, du Schieter!" rief ich. "Gleich kriegst du eins hinter deine Horchlöffel, du!" - "Na ja, Opa, du hast doch gesagt, du wärst auf einem Bahnhof geboren." - "Na und? Jeder Bahnhof hat ein Bahnhofsgebäude, manche sogar mehrere." - "Wer kann da pennen, wenn die Dieselloks angezischt kommen?" brabbelte Falko. "Was heißt hier Dieselloks? Damals gab es solche Lokomotiven noch gar nicht. Alle Züge - ob morgens, mittags oder abends - wurden von Dampfloks gezogen, hatten einen Lokomotivführer und einen Heizer."

Falko schwieg, und ich kam ins Erzählen. Ich erinnerte mich an viele Einzelheiten auf dem Bahnhof Rosengarten, der zwischen den Kreisstädten Angerburg und Rastenburg nicht weit vom Mauersee entfernt lag.

Ich sah wieder die alte Schwengelpumpe vor mir, die zwischen dem Güterboden und der Bahnmeisterei im Erdgeschoß unseres Hauses lag. Opa pumpte dort jeden Abend einen Eimer voll Wasser und trug ihn unserer Liesekuh in den Stall. Bevor der Winter kam, umwickelte er die Schwengelpumpe mit einem Strohband, damit sie ja immer ihr Naß preisgab.

Mutter in der Küche hatte einen kupfernen Wasserhahn: wenn sein Wasserstrahl dünn wurde, rief sie zum Bahnmeisterbüro hinunter, und Vaters Schreiber Brosowski tappte in den Keller. Dort drückte er einen Schwengel hin und her, bis oben auf dem Dachboden ein mächtiger, viereckiger Kessel bis zum Rand gefüllt war. Herr Brosowski wußte genau, wieviel mal er nach links und nach rechts drücken mußte.

"Auf der anderen Seite der Pumpe stand der Güterboden." - "Was? Bei euch im Keller?" staunte mein Enkel. "Ach, ich meine doch die andere Pumpe, von der unser Muttervater, also dein - Moment - dein Ururgroßvater jeden Abend ..." - "Einen Eimer voll für eure Kuh pumpte." - "Genau, links neben ihr, wenn man zu den Gleisen guckte, stand ein Güterboden. Zweimal in der Woche hielt - von der Straße aus gesehen - ein Lastkraftwagen davor, und Männer rollten aus ihm hellgelbe Butterfässer in den Güterboden, die dann, wenn der Güterzug kam, in einen Güterwagen verstaut wurden." - "Da war also immer was los auf eurem Dorfbahnhof?" staunte mein Enkel. "Das kannste glauben!" versicherte ich stolz. "Und wenn nichts los war, dann haben wir Bowkes was losgemacht."

"Was denn zum Beispiel?" - "Zum Beispiel Schlagball gespielt oder Plumpsack. Und als mein Bruder zu seinem elften Geburtstag einen echten Lederfußball geschenkt bekam, bolzten wir echt herum. Auf dem Bahnhof waren wir allein schon vier Bengels, und einige kamen immer noch aus dem Dorf dazu." - "Aber dann seid ihr doch in eine Stadt gezogen?" - "Ja, und da war alles anders. Wir wohnten nicht mehr auf dem Bahnhof, sondern etwas abseits, doch der Wasserturm der Bahn stand am Ende unseres Gartens, und dahinter war ein Lagerplatz mit ausgedienten, glaslosen Eisenfensterrahmen, mit Eisen- und Schienenteilen und Schildern mit großem L und Schriften wie ,Halt! Betreten der Gleisanlagen verboten!'"

Falko unterbrach mich: "Was bedeutete denn das große L?" - "Solche Tafeln standen meist vor schrankenlosen Bahnübergängen. Sie erinnerten die Lokomotivführer, daß sie laut bimmeln sollten." - "Aha!" - "Ja, und nicht weit von diesem Lagerplatz hatte unser Vater - also dein Urgroßvater - sein Bahnmeisterbüro." - "Bahnmeister? Was hatte denn der zu tun?"

"Bahnmeister, so wurde unser Vater allgemein genannt. Genau hieß sein Stand: Technischer Reichsbahninspektor. Er war zuständig für die Gleisanlagen eines bestimmten Bereichs." - "Auch für die Weichen?" - "Erbarmung! Weichen, Kreuzungen und dergleichen gehören doch zu den Gleisanlagen. Nicht weit von Vaters Büro lag ein Lokschuppen, und davor befand sich eine große Drehscheibe." - "Wozu diente denn die?" staunte Falko. "Auf ihr wurden die Dampflokomotiven in die notwendige Richtung gedreht. Ich habe nie erlebt, daß eine Lok mit ihrem Tender voraus einen Zug gezogen hat."

"Was ist denn ein Tender nun schon wieder?" - "Weißt du das nicht?" "Nee!"

"Ein Tender ist der Hänger einer Dampflok, der mit Steinkohlen beladen wird, die zum Beheizen der Lokomotiven benötigt werden. Nach 1945 fuhren in der sowjetischen Besatzungszone Lokomotiven auch mit Briketts. Das sah man an den gespenstischen Funkenregen, die an den Fenstern der Waggons vorbeijagten und..." - "War das nicht gefährlich, wenn das Funken herumflogen?" fragte Falko.

"Natürlich! Bei Trockenheit entzündete sich oft dürres Gras neben den Schienen und manchmal sogar Waldstücke. Aber damals in Mohrungen in Ostpreußen wurden Lokomotiven nur mit Steinkohle beladen. Unser Nachbar, Alfreds und Georgs Vater, arbeitete an solcher Anlage, mit der Dampfloks mit Steinkohle versorgt wurden. Übrigens von dem danebenliegenden Lagerplatz hatten Alfred, Georg und ich uns mit Fenstergittern und Blechschildern versorgt, die wir als Dachteile für unseren Bunker verwendeten, den wir uns damals hinter dem Wasserturm errichtet hatten." - "Und das ging so einfach?" "Wir haben es jedenfalls bedeichselt. Ob unser Vater nichts davon mitbekommen hat, dahinter bin ich nie gekommen."

"Was habt ihr denn in eurem Unterstand gemacht?" - "Dumm gequatscht, heimlich geraucht, was sonst? Munition für meinen Tesching gab es nach Ausbruch des Krieges nicht mehr zu kaufen. Auch keine Platzpatronen für Schreckschußpistolen." Falko macht ein langes Gesicht. "Was ist ein Tesching?"

"Ein Tesching war ein kleines Kleinkalibergewehr, mit dem mein Bruder und ich in Friedenszeiten hinterm Wasserturm auf eine 12er Scheibe gezielt und geschossen haben bzw. ich vom Schlafzimmerfenster meiner Eltern aus auf Spatzen zielte, die in der Birke auf dem Hof zwitscherten. Ab September 1939 war es damit vorbei. Doch eins hab ich noch vergessen. In den ersten Jahren konnten wir rechts vom Wasserturm weit über die Gleise der Reichsbahn hinaus auf grünende und dann gelb wogende Getreidefelder schauen. Zwei Jahre später wuchsen dort Gebäude aus dem Boden. Und ein weiteres Jahr danach hielten Eisenbahnzüge mit graugrünen Wehrpflichtigen auf unserem bis dahin so friedlichen Bahnhof, und Haubitzen mit drohenden Rohren donnerten von offenen Waggons aufs Pflaster der Rampe. Und braune und schwarze Pferde wieherten in den Viehbuchten neben der Drehscheibe, in denen bis dahin lediglich Schlachtschweine gequiekt, Schafe geblökt und possierliche Kälbchen gemuht hatten. Wir Bowkes bestaunten den ganzen Vorgang, und Georg, Alfreds Bruder, sabbelte los: ,Wollen wir uns nich einen Gaul klauen und weggallopieren?' Ich tippte ihm an die Stirn und belehrte ihn: ‚Das sind keine Gäule! Das sind echte Trakehner!'"

Falko unterbrach mich: "Woher wolltest du erkannt haben, daß das echte Trakehner waren?" - "Natürlich! Trakehner waren weltweit bekannt. Pferde, die vom Trakehner Gestüt aus Ostpreußen kamen, hatten auf der Hinterhand, auf dem linken Schenkel - vielleicht war es auch der rechte - eine Elchschaufel eingebrannt." - "Elchschaufel?" fragte Falko. "Nun ja, eine Hälfte eines Elchgeweihs. Elche gab es in Deutschland nur im nördlichen Ostpreußen, in der Niederung und auf der Kurischen Nehrung." Bei mir dachte ich: Meine Güte, was wird wohl mein jüngster Enkel erst fragen, der heute erst vier Jahre alt ist, wenn der in die Schule kommt? Was sage ich ihm, wenn er erfährt, daß ich fünf meiner Jugendjahre hinterm Ural rumgekrebst bin? Eins kann ich ihm versichern: Der Wasserturm steht noch in Mohrungen, das heute Morag heißt. Aber alles drumrum ist nicht mehr wie damals, zu meiner Jugendzeit.

Mohrungen: Eisenbahnbrücke von der Stadtmitte zum Kümmelberg

Foto: Lillge