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13.07.02 / Die Geschichte vom Herrn Habedank

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 13. Juli 2002


Die Geschichte vom Herrn Habedank
von Margarete Regehr

Die drei Buben, Frank, Thomas und Hans, wuchsen in einem glücklichen Elternhaus auf. Die Eltern fanden immer Zeit für ihre Kinder, wenn auch nicht sogleich, aber sobald wie möglich. Ansonsten hatte die Großmutter, die mit im Haus lebte, für alle Nöte und Fragen offene Ohren und Arme. Frank, der Älteste, ähnelte der Mutter am meisten. Sie verstanden sich, ohne viel zu reden, es genügte ein warmherziger Blick. Eines Morgens erschien die Mutter am Frühstückstisch in dem hübschen braunen Kleid, das sie eine Zeit vor der Geburt des jüngsten Brüderchens getragen hatte, fast vor drei Jahren. Nach dem Mittagessen setzte sich die Mutter in den großen Lehnstuhl wie immer. Auf diesen Moment hatte Frank gewartet. Zärtlich legte er seine Arme um ihren Hals und fragte leise, ob ein Geschwisterchen zu erwarten sei. Die Mutter drückte ihren Ältesten an sich und nickte fast unauffällig.

Frank stürmte die Treppe hoch, um Thomas das Neueste zu berichten. Hans war noch zu klein für die Neuigkeit. Er lebte ganz in seiner Kinderwelt. Natürlich wollten die Brüder erfahren, wann das Geschwisterchen ankommen würde. Frank wartete ein paar Tage, aber dann mußte er es erfahren. "Das ‚Schwesterchen' wird ankommen, wenn die ersten Rosenknospen vor der Veranda aufbrechen", meinte die Mutter. So lange dauerte es noch; zuvor wurde es Weihnachten und auch Ostern.

Eines Tages zog Frank die Großmutter in ein Gespräch. Er mußte erforschen, ob wirklich ein Schwesterchen auf dem Weg sei. Die Großmutter war ganz sicher. Bei beiden Großeltern war das vierte Kind ein Mädchen gewesen. Warum sollte es jetzt anders sein? So ganz überzeugt war Frank nicht. Die Zeit ging hin.

Eines Nachmittags im April saßen die Eltern beim Kaffee im Salon, und Frank, der in ein Buch vertieft auf der Veranda saß, hörte, wie die Eltern über den Namen berieten. Schließlich einigten sie sich auf "Henriette". Frank traute seinen Ohren nicht: "Putte, putte, Henne!" Nur das nicht. Unser Schwesterchen heißt "Rosemarie". Das steht fest. Thomas, dem er die Nachricht sofort überbrachte, lachte laut los. Die Großmutter war sofort gewonnen. Es hieß aber noch abwarten.

Eines Morgens Anfang Mai blieb Mutters Platz am Frühstückstisch leer. Großmutter war aber tätig. Bald darauf stand ein entzückend anzusehendes Babybettchen vor der Tür des elterlichen Schlafzimmers. Die weißen Gardinen waren mit kleinen Rosenknospen bestickt. Frank brach eine Rosenknospe und legte sie auf das ebenfalls bestickte Deck-bettchen. Er blieb noch ein Weilchen davor stehen. Zwei Tage später hatte die Großmutter das kleine Bettchen ins elterliche Schlafzimmer gestellt.

Die Buben waren unruhig. In der Schule fehlte es an Aufmerksamkeit. Sie stürmten nach Hause. In dem Hausflur stand der strahlende Vater mit ausgestreck-ten Armen. "Euer Schwesterchen ‚Henriette' ist angekommen", rief er ihnen entgegen. "Das ist nicht unser Schwesterchen", riefen beide empört aus. Zum Glück war die Großmutter sofort zur Stelle. Der bereits vorher informierte Vater erklärte sich einverstanden. Gegen Abend durften die Buben der Mutter einen Rosenstrauß in die Hand legen und das Schwesterchen ansehen. Sie waren selig vor Glück.

Bald war die Familie beim Frühstück wieder zusammen. Am Morgen und Abend beschäftigte sich die Mutter lange mit der Kleinen. Sie wuchs heran und war die Freude und der Stolz der Familie. Früh sang die Mutter am Bettchen Kinderlieder und legte die zarten Händchen in ihre gefalteten.

Mit zwei Jahren durfte Rosemarie zur Mittagsmahlzeit am Tisch sitzen. Alles Neue nahm sie nach und nach in sich auf. Ihren dritten Geburtstag erlebte sie ganz bewußt. Nach dem Essen wurde das Tischgebet gesprochen: "Für Speis und Trank, Herr, habe Dank." Bei der Verwandtschaft, im Freundeskreis, überall hörte die Kleine dasselbe. Wer ist dieser "Herr Habedank", und wo wohnt er, dachte sie, fragte aber nicht.

Im Spätsommer bei Verwandten im Forsthaus an einem Sonntag drängte es das Kind, Herrn Habedank zu suchen. Er mußte im Wald wohnen. In einem unbedachten Augenblick lief die Kleine davon. Der Wald wurde dichter und aus Leibeskräften rief sie wiederholt: "Herr Habedank!"

Der Vater horchte auf. Das war Rosemaries Stimme, die an sein Ohr drang. Er lief ihr nach, schneller, schneller, stolperte, aber das Kind war nicht sichtbar. Da hinten stand sie, auf einem leicht ansteigenden Weg. Atemlos war der Vater. Mit letzter Kraft erreichte er das Kind. Er legte sich auf den nassen Boden und preßte sein Kind an sich, sprechen konnte er noch nicht. Nach geraumer Zeit erreichten sie das Forsthaus. Sofort nahm sich die Großmutter des Kindes an und blieb auch bis zum Einschlafen bei ihm. Die Mutter konnte keine Kraft aufbringen.

Am anderen Morgen reichte die Kleine der Großmutter den Kamm und hörte: "Habe Dank, Rosemarie." Sie begriff bald, daß dieser Herr, dem Dank gebührt, "Gott im Himmel" ist, und sprach dann das Tischgebet mit.