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27.07.02 / Entdeckungen

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 27. Juli 2002


Entdeckungen
von Renate Dopatka

Nun sei doch nicht so langsam!" Langsam? Walter wunderte sich. War das noch seine Hannelore? Seine sanfte, geduldige Hannelore?

Ein wenig außer Atem blieb er mitten auf der Wiese stehen, den Blick starr auf seine eilig vorwärts strebende Frau gerichtet.

Das hohe Gras, noch naß vom sommerlichen Platzregen, war durchsetzt mit Disteln und anderem Gestrüpp. Aber Hannelore - sonst stets auf ein korrektes, gepflegtes Äußeres bedacht - schien die Gefahr von Laufmaschen und Hakrissen am Rocksaum völlig zu ignorieren.

"Wo bleibst du denn?"

Ungeduldig schaute sie sich nach ihm um. Ihre Wangen waren gerötet, einzelne Strähnen hatten sich aus der Frisur gelöst und fielen ihr in die Stirn, und ihre Augen ...

Walter wurde ganz seltsam zumute, als er in diese freudig erregten, glänzenden Augen sah. Über vierzig Jahre waren sie nun miteinander verheiratet, aber nie zuvor hatte er sie in einer solchen Stimmung erlebt wie jetzt, da sie nach Jahrzehnten erstmals wieder heimatlichen Boden unter den Füßen hatte. Wenn von ihrem Elternhaus auch nichts mehr übriggeblieben war, so gab es immer noch das Land: dieses sonnenbeschienene weite Land mit seinen sanft ansteigenden Hügelkuppen und den tiefen Senken, in denen er zu seiner Überraschung so manches Mal das tiefblaue Auge eines Sees erblickte.

Ja, es war ein schönes Land. Und es brachte in Hannelore jenes Mädchen zum Vorschein, das sie einmal gewesen sein mußte.

Plötzlich wurde ihm schmerzhaft bewußt, daß er dieses Mädchen nie gekannt hatte. Die Frau, die da mit zerzaustem Haar und strahlenden Augen über die Wiesen eilte, hatte nur noch wenig gemein mit der zärtlich-besorgten Gattin, aufopferungsvollen Mutter und umsichtigen Geschäftsfrau, als die sich Hannelore ihm stets präsentiert hatte.

Hier lief ein junges Mädchen an seiner Seite: fröhlich, unbeschwert, losgelöst vom Alltag, pflichtvergessen und voller Ungeduld, sich ihre Heimat Stück für Stück zurückzuerobern.

"Gleich sind wir da!" hörte er sie jetzt mit erwartungsvoll bebender Stimme sagen. "Der Boden wird schon weicher ...!"

Tatsächlich hatte Walter das Gefühl, auf moorigem Untergrund zu laufen. Ihm wurde ein wenig schwindlig. Das sachte Federn, ja Schwanken unter seinen Füßen ließ ihn haltsuchend nach Hannelores Hand greifen.

Sie waren beide nicht mehr die Jüngsten. Wenn sich nun einer von ihnen die Haxen brach oder von dieser seltsamen Wiese einfach verschluckt wurde ...?

Seine Phantasie drohte langsam mit ihm durchzugehen. "Sag mal, ist das nicht ein bißchen gefährlich, was wir hier machen?" räus-perte er sich. "Wenn nun was passiert?"

"Gefährlich? Ach woher! So war es hier schon immer, das ist ganz normal. Je mehr man sich dem Fluß nähert, um so weicher wird der Boden. Wackelwiesen haben wir sie als Kinder genannt."

Er spürte den festen Druck ihrer Hand, hörte die ruhige Sicherheit in ihrer Stimme - und auf einmal schwanden all seine Bedenken, und Neugier begann sich in ihm zu regen, wie dieser sonderbare Fluß wohl aussehen mochte, den Hannelore ihm unbedingt zeigen wollte.

Als er zwischen Gras und Dickicht etwas bläulich aufblitzen sah, schlug auch sein Herz unwillkürlich schneller.

Vorsichtig tasteten sie sich näher ans Ufer heran. Es war ein ziemlich schmaler Fluß, eigentlich mehr ein Bach, der sich da durch die Wiesen schlängelte. Hannelore betrachtete ihn jedoch so hingerissen, als stünde sie am Amazonas.

"Genau so habe ich ihn in Erinnerung", flüsterte sie. "Er ist ganz unverändert. Schau nur, wie sauber das Wasser ist - man sieht bis auf den Grund ...!"

Wäre er allein hier gewesen, er hätte vielleicht nur einen flüchtigen Blick auf das Flüßchen geworfen und wäre dann unbeeindruckt weitergegangen. Aber Hannelores leuchtende Augen, in denen er Tränen zu sehen glaubte, rührten sein Innerstes an.

Und es war ja wirklich ein schöner Anblick. Das frische Grün des ungemähten Grases gab einen sehr natürlichen, urwüchsigen Rahmen ab für diesen von einer kaum wahrnehmbaren Strömung bewegten, stillen Wasserlauf.

"Im Frühjahr trat er regelmäßig über die Ufer", erinnerte sich Hannelore. "Für uns Kinder war es ein herrliches Abenteuer, wenn die Wiesen auf einmal unter Wasser standen und es von Hechten nur so wimmelte. Sie kamen jedes Jahr zum Laichen hierher. Wir konnten sie dann mit der bloßen Hand fangen, sie sozusagen von der Wiese pflücken."

Lächelnd blickte sie zu ihm auf, während sie sich an ihm festhielt, um ihre Hand ins Wasser zu tauchen.

Und plötzlich sah Walter das Bild deutlich vor sich: ein blondes, braungebranntes Mädchen, das voller Übermut nach dem zappelnden Leben zu seinen Füßen griff.

Über Hannelores Kopf hinweg schaute er auf das grüne, sanftgewellte Land, das sich in endlosem Auf und Ab dem Horizont entgegenstreckte. Und er empfand Dankbarkeit gegenüber diesem Stückchen Erde, das ihn seine Frau ganz neu entdecken ließ ...

Ursel Dörr: An der Krutinna in Ukta (Aquarell)