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10.08.02 / Das letzte Aufgebot / Alfred Weng erinnert sich an seinen Einsatz als Hitlerjunge an der Ostfront

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 10. August 2002


Das letzte Aufgebot
Alfred Weng erinnert sich an seinen Einsatz als Hitlerjunge an der Ostfront

Roggenhausen 1944. Noch einmal wurde uns ein herrlicher Sommer geschenkt. Seit Wochen hatte es nicht geregnet, nur blauer Himmel und Sonne. Ein leichter Wind strich über die goldenen Ährenfelder meiner ostpreußischen Heimat und legte sie in sanfte Wogen. Eine merkwürdige Spannung lag in der Luft. War das Grollen in der Ferne wirklich nur ein aufziehendes Gewitter? Die auf unserem Hof weilenden Flüchtlinge aus Schirwindt waren nach Hause gefah- ren, um dort an der Grenze ihre Ernte einzubringen. Auch hielt sich seit Tagen ein Gerücht, die Hitlerjungen bis Jahrgang 1930 sollten zum Spatendienst an die Front im Osten beordert werden. Heimlich hatte ich mir schon einen Spaten hergerichtet, schön blankgeputzt und in meinem Zimmer aufbewahrt. Ich fieberte diesem Abenteuer entgegen, endlich dabeisein zu dürfen.

Noch lief auf dem Hof meiner Eltern alles seinen gewohnten Gang, jeder hatte seine Aufgabe zu erfüllen. Ich war damit beschäftigt, den Bindemäher einsatzbereit zu machen, die Ernte stand bevor. Dann kam die Einberufung. Meine Eltern waren entsetzt, aber es half nichts. Schon drei Tage später marschierte ich stolz mit geschultertem Spaten zum Bahnhof. Dort wurde ich bereits von meinen Freunden aus der Nachbarschaft erwartet. Wir fuhren mit dem Zug nach Heilsberg zu unserer Sammelstelle. In der Stadt wimmelte es von Braunhemden. Die Langgasse vom Markt zum Hohen Tor, wo der Sitz des Bannführers war, glich einem Heerlager. Appelle und Musterungen lösten einander ab. Schnell ging ich noch zum Frisör, Streichholzlänge war angesagt. Zum Mittagessen wurden wir in Heilsberger Familien vermittelt. Ich war bei einer Familie im Heimstättenweg zu Gast. Die Nacht verbrachten wir auf dem Heuboden des Bauernhofes Krüger.

Am nächsten Morgen sollte es nun endlich losgehen zu unserem "Fronteinsatz". Niemand wußte etwas Genaues, es gab Probleme mit der Eisenbahn. Immer wieder wurde der Zeitplan der Abfahrt verschoben. Stundenlang saßen wir auf den Bordsteinen der Bahnhofstraße. Erst am späten Nachmittag stand ein Zug zur Verfügung, in den wir verladen wurden. Die ganze Nacht dauerte die Fahrt, die für jeden von uns zu einer Qual wurde. Zuerst wurde noch gesungen, Witze erzählt und Späße gemacht, einige spielten Karten. Dann ließen die ersten die Köpfe hängen - und schliefen ein. Einer von uns kam auf die grandiose Idee, den Schlafenden Papierröllchen in den Mund zu stecken und dann anzuzünden. Keiner war vor diesem Schabernack sicher, und so traute sich niemand mehr einzuschlafen.

Im Morgengrauen, wir waren alle total übermüdet, überfuhren wir die deutsch-polnische Grenze bei Grajewo. Zum ersten Mal sah ich die zerstörten Befestigungsanlagen, dort, wo der Krieg 1939 begonnen hatte. Es war alles genau so, wie mein Vater es erzählt hatte. Noch eine Stunde fuhr unser Zug in Richtung Osten, dann hielt der Zug auf freier Strecke, und wir mußten aussteigen. Das Gepäck wurde am Bahndamm abgelegt, und wir marschierten bei praller Sonne, nur mit unserem Spaten bewaffnet, unserem Einsatzort entgegen.

Wir kamen durch Dörfer, vorbei an kleinen, strohgedeckten Häusern und durch morastige Wege. Stundenlang sind wir so marschiert, ohne Essen und Trinken. Endlich tauchte in der Ferne ein größerer Ort auf, Radzilow, den wir unter Aufbietung unserer letzten Kraft erreichten. Von der dortigen Wehrmachtskommandantur wurden wir sehr skeptisch betrachtet, sie wußten nicht so recht was mit uns anzufangen. Dann wurden wir verpflegt und zum Übernachten auf die polnischen Bauernhöfe verteilt. Am frühen Morgen wurde ein Vorauskommando zusammengestellt, das unseren vorgesehenen Einsatzort Lomza erkunden sollte. Auch ich gehörte zu dieser Gruppe.

Etwa 30 Kilometer Fußmarsch auf staubiger Straße und in glühender Sonne lagen vor uns. Zwei Stunden sind wir so marschiert, als plötzlich die Hölle losbracht. Geschütz- und Maschinengewehrfeuer ganz in unserer Nähe. Auf der Straße kamen uns Soldaten und Fahrzeuge entgegen. Sie glaubten zu träumen, als sie von unserem Vorhaben erfuhren. Die Sowjets waren durchgebrochen, und die Truppe befand sich auf dem Rückzug. So mußten wir gezwungenermaßen unser Vorhaben aufgeben und in einem Gewaltmarsch wieder zurück zu unserem Ausgangspunkt, an den Bahndamm, wo unser Gepäck noch immer in der Sonne lag. Mein Reiseproviant, von meiner Mutter liebevoll eingepackt, war verdorben. Die Butter hatte sich mit der Unterwäsche vermengt und tropfte langsam aus dem Rucksack.

Plötzlich, ein Geräusch ließ uns aufhorchen, alles ging in volle Deckung. Sowjetische Tiefflieger hatten uns entdeckt und aufs Korn genommen. Vor Schreck war ich wie gelähmt. Dreck spritzte neben mir hoch, ich hatte Angst. Wir hatten noch mal Glück gehabt, niemand wurde verletzt. Unter den Tragflächen der Angreifer sah ich den roten Stern. Ein eigenartiges Gefühl überwältigte mich. Nach endlosem Warten kam ein Zug, der uns auf freier Strecke aufnahm und in Richtung Norden fuhr. Dieser Teil der Reise verlief viel gesitteter, hatten wir doch alle einen kleinen Dämpfer bekommen.

Am nächsten Tag kamen wir in Tilsit an. In der dortigen Kaserne sollten wir uns erholen und auf den nächsten Einsatz vorbereiten. Auch wurde dort eine Auslese vorgenommen. Die Schwächsten mußten nach Hause. Hurra! Ich durfte bleiben! Noch bevor wir uns in Tilsit richtig umgesehen hatten, ging es weiter, diesmal nach Litauen. Gleich hinter der Grenze in Bajohren-Krottingen sollten wir beim Stellungsbau eingesetzt werden. Als Quartier wurden uns wieder die Scheunen der umliegenden Bauernhöfe zugeteilt.

Schon am nächsten Morgen wurden wir von Pionieren in Empfang genommen. Nach einem längeren Fußmarsch erreichten wir unseren Bestimmungsort. Jedem wurde ein Meter Panzergraben zugeteilt. Schön sauber mußten die Grassoden abgetragen und aufgeschichtet werden. So weit das Auge reichte, reihten wir uns Meter an Meter durch die litauischen Felder.

Eine anstrengende Arbeit, der Boden war naß und lehmig. Bald zeigten sich die ersten Blasen an den Händen. Jeder Spatenstich wurde zu einer Qual. Mehrere Tage ging das so, bis jeder seinen Meter genau nach Maß fertig und der Aushub mit den Grassoden sauber abgedeckt war. Ich fühlte mich wie zerschlagen, die Erschöpfung schien zum Dauerzustand geworden zu sein. Nur einen Wunsch hatte ich: schlafen! Vor unserer Scheune brannte ein offenes Feuer, einige von uns waren dabei, eine Suppe zu kochen. Ich hatte keinen Hunger und verkroch mich im Stroh. Nachts war es kalt, wir hatten nicht mal eine Decke. Gerade eingeschlafen, wurde ich geweckt, ich war zur Wache eingeteilt worden. Ausgestattet mit einer Parole und einem umgehängten Kleinkalibergewehr mußte ich mit einem Freund in stockdunkler Nacht unsere Scheune bewachen. Vom Osten drang Gefechtslärm herüber, deutlich konnten wir am Horizont die Mündungsfeuer erkennen. Weit konnte die Front nicht entfernt sein. Mit Angst und Grauen mußte ich an die Zukunft meiner Heimat denken. Mich fröstelte. Ich war froh, als ich abgelöst wurde und noch einmal für ein paar Stunden ins Stroh kriechen konnte.

Am nächsten Tag wurde ein Wehrmachtsdepot aufgelöst, und wir bekamen lange Stiefel aus Rohleder, die viel zu groß waren. Es muß ein komischer Anblick gewesen sein, als wir in kurzen Hosen und langen Stiefeln herumliefen. Nun rückte auch der Tag unserer Heimreise näher. Wir freuten uns, nach erfülltem Auftrag heimzukehren. Morgens in aller Frühe sind wir mit dem Lied "Es zittern die morschen Knochen" durch Memel zum Hafen marschiert. Von dort fuhren wir mit einem Schnellboot der Kriegsmarine in die Ostsee. Das Boot war total überfüllt, die meisten Jungs befanden sich auf dem Oberdeck, über das ständig die Brecher hinweggingen.

Völlig durchnäßt kamen wir in Pillau an. Dort wurden wir von einem Marinekommando in Empfang genommen, das seine Empörung über unser Auftauchen, und das in diesem Zustand, lautstark von sich gab. Trotzdem wurden wir freundlich in ihrer Kaserne aufgenommen und wieder aufgepäppelt, unsere Uniformen gewaschen und gebügelt. Fein zurechtgemacht kamen wir nach ungefähr vier Wochen wieder in Heilsberg an. Auf dem Marktplatz, vor dem Husarendenkmal, nahmen wir nochmals Aufstellung. Zur Begrüßung wurden kernige Reden gehalten, die mich aber nicht mehr berührten. Ich wollte nur noch nach Hause.

Auf einmal war alles anders, nichts mehr wie vorher. Ein schicksalhaftes Erlebnis. 

 

Heilsberg: Das idyllische Städtchen war im Krieg Sammelstelle für "das letzte Aufgebot", Hitlerjungen, die zum "Spatendienst" an die Ostfront beordert wurden Foto: Archiv