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24.08.02 / Morgens um sechs

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 24. August 2002


Morgens um sechs
von Werner Hassler

Für acht Tage hatte ich mich in einem Athener Hotel eingenistet. Am Tag nach meiner Ankunft stand in aller Herrgottsfrühe eine ganztägige Reise ins Landesinnere auf dem Programm. Wollte ich dieses Erlebnis nicht verschlafen, mußte ich also schon um sechs Uhr in der Früh geweckt werden.

Und damit begann das Problem. Neben meiner Muttersprache beherrsche ich vierzehn Wörter der französischen Sprache und kann mich mit neun Wörtern auf Russisch verständigen. Der Mann in der Rezeption war leider nicht dazu zu bewegen, auch nur eine einzige dieser Sprachen zu verstehen oder zu sprechen. Er sprach neben seiner Muttersprache nur dieses seltsame Englisch. Und von dieser Sprache kenne ich keine einzige Silbe. Also gab ich in der Gebärdensprache zu verstehen, daß ich um sechs Uhr geweckt werden wollte. Der Mann in der Rezeption gab mir in der Gebärdensprache zu verstehen, daß er mich nicht verstanden habe.

Ich griff nach einem Blatt Papier und Schreiber. Kunstvoll malte ich einen Wecker, zeichnete die Zeiger auf sechs Uhr und versah den Wecker ringsum mit Sprechblasen, in die ich rrrr und tuttut schrieb. Daneben malte ich eine Tür, die ich mit meiner Zimmernummer versah. O Wunder, meine naive Malerei war verstanden worden!

Um sechs Uhr in der Früh schrillte das Telefon. In fließendem Englisch erzählte mir der Mann aus der Rezeption eine Geschichte, die ich leider nicht verstand. Ich verlebte eine wunderbare Rundreise. Todmüde sank ich in die Federn.

Das unerbittliche Klingeln des Telefons riß mich aus meinem Lieblingstraum. Verschlafen blinzelte ich zur Uhr. Punkt sechs! Ich griff nach dem Telefonhörer. Der Mann aus der Rezeption begann gerade wieder im fließenden Englisch seine Geschichte zu erzählen, als ich ihn etwas mürrisch mit Nein, Nonnonoo und Njet unterbrach. Schließlich wollte ich vor neun Uhr auf gar keinen Fall aufstehen. Aber ich wollte nicht mehr einschlafen. Mit Hilfe des Schäfchenzählens schlief ich beim hunderteinundvierzigsten Schaf ein.

Und was geschah am nächsten Morgen, Punkt sechs Uhr? Erbarmungslos läutete das Telefon. Ich ließ den hartnäckigen englischsprechenden Wecker nicht mal den ersten Satz beenden. Ungehalten brüllte ich ins Telefon und knallte den Hörer nieder. Danach konnte ich keinen Schlaf mehr finden. Ich versuchte es wieder mit dem Schäfchenzählen. Aber ich fiel nicht mehr auf den Trick rein. Deshalb setzte ich mich auf den Balkon und genoß den prachtvollen Ausblick auf sämtliche Satellitenschüsseln und Fernsehantennen Athens.

Noch vor dem Frühstück richtete ich eine gebärdenreiche Ansprache an den Mann in der Rezeption, die nur ein Ziel verfolgte, ihm unmißverständlich klarzu-machen, daß ich nicht mehr geweckt werden wolle.

Bevor ich zu Bett ging, erinnerte ich mich an den unnachgiebigen Weckdiener. Deshalb baute ich vor und legte vorsichtshalber den Hörer neben das Telefon. Darauf schlief ich tief und fest.

Zaghaftes, dann aber heftiges Klopfen an meine Zimmertür riß mich aus der spannenden Endphase meines Lieblingstraumes. Es war drei Minuten nach sechs. Schlaftrunken taumelte ich zur Tür. Draußen stand mit Unschuldsengelgesicht mein unerbittlicher Widersacher aus der Rezeption.

Es wäre aussichtslos, meinen Gefühlszustand zu beschreiben. Ich holte tief Luft und ließ einen markdurchdringenden Urschrei folgen. Derart erschrocken sah der Meister der Rezeption sein Heil nur noch in der Flucht. Ich nahm die Verfolgung auf. Fast gleichzeitig erreichten wir die Rezeption. Hätte ich alle meine Gedanken in die Tat umgesetzt - es hätte weittragende Folgen gehabt. Vielleicht wäre es gar zum Bruch der diplomatischen Beziehungen beider Länder gekommen.

Dann tippte mir jemand auf die Schulter. "Haben Sie Probleme?" fragte mich ein Mann.

"Sprechen Sie Englisch?" fragte ich zaghaft.

"Ja, es ist die Sprache meiner Mutter", gab mir der Mann im noblen Zwirn zu verstehen.

Ich war erleichtert. Dann erzählte ich dem Mann mein Anliegen. Ich lauschte der Übersetzung. Ich war so beeindruckt, daß mich für einen Moment der Gedanke beschäftigte, diesen Mann als einen meiner Erben einzusetzen.

Jedenfalls verlebte ich einen schönen letzten Urlaubstag. Ich konnte sogar ungestört bis neun Uhr schlafen. Doch am späten Abend bereitete mir ein plötzlicher Gedanke heiße Ohren. Morgen startete in aller Herrgottsfrühe mein Flieger. Sollte ich da als Fluggast an Bord sein, müßte ich um sechs Uhr geweckt werden. Aber wer sollte mich wecken? Ich war mir sicher, nach diesem Zwischenfall würde mich der Mann aus der Rezeption selbst am Jüngsten Tag nicht mehr wecken. Ich saß auf der Bettkante und begann zu leiden.

Und da kam mir der rettende Einfall. Ich griff zum Telefon und rief zu Hause meinen Freund Günther an. "Du, Günther", schnorrte ich ins Telefon. "Gespräche aus Athen nach Hause sind sündhaft teuer. Deshalb fasse ich mich kurz. Morgen früh, Punkt sechs Uhr, rufst du folgende Nummer an. Also die Vorwahl von Griechenland ist 0030. Dann wählst du von Athen die Nummer ..."