19.04.2024

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24.08.02 / Sie bangt sich all wedder

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 24. August 2002


Sie bangt sich all wedder
von Christel Bethke

Meine Schwester Gertrud und ich sind zu einem Ausflug mit unseren Rädern ins Grüne verabredet. Sie will unten vor dem Haus, in dem sie wohnt, auf mich warten. Als ich ankomme - keine Gertrud zu sehen. Statt dessen finde ich sie oben in ihrem Winkel zwischen Heizung und Tisch sitzen. Sie ist mal wieder in eines ihrer schwarzen Löcher gefallen, wie wir diesen Zustand nennen.

Unser Spiel beginnt: "Was iss dir? Bist krank?" - "Weiß nicht." - "Hast doch gut." - "Ja, hab ich." - "Na, was fehlt denn?" - "Weiß nich so recht." - "Weiß nich?" - "Nei, weiß nich." - "Ich aber!" - "Du?" - "Ja, ich, du bangst dir mal wedder." - "Wie du raten kannst!"

Kann ich, denn ich habe selbst manchmal diese Anwandlungen und ich "bang mir" denn auch. Wir haben alles, sind Teilnehmer einer Konsumgesellschaft geworden, die keine Wünsche mehr offen läßt. Woher kommt denn das Bangen meiner Schwester? Woher meines?

Gleich nach der Flucht pachtete meine Schwester ein Stück Land und beackert es immer noch. Damals war es zum Überleben notwendig. Alle Nachbarn um sie herum haben ihr Stück Land schon längst aufgegeben, kaufen ihr Gemüse im Geschäft oder auf dem Markt. Meine Schwester nicht. Sie sät, pflanzt und erntet immer noch. Das gibt ihrem Leben Struktur und Sinn und mir den Gemüse- und Obstgeschmack von früher. Sie hat ihrem Acker den Namen "Taiga" gegeben. Im Atlas liegt die Taiga sehr viel weiter östlich, aber da wo meine Schwester und ich herkommen, sieht es heute auch wie in der Taiga aus.Vor einigen Tagen hat man Bäume gefällt, die zur "Taiga" gehören. Das hat meine Schwester verstört, und sie hört in den klagenden Rufen der Vögel ihre Heimatlosigkeit. "Die sind wie wir", meint sie, "sie haben keine Heimstatt mehr!"

Nun habe ich genug! "Red nicht, zieh dich an und komm." Jetzt habe ich anscheinend die richtige Richtung eingeschlagen. Wir fahren. Wir machen unsere Tour ins Grüne. Am Wegesrand liegt ein altes Wagenrad, Grundstock für ein Storchennest. Wir erinnern uns. Auf dem Scheunendach hatte es seinen Platz. In Gedanken hören wir die Störche klappern. Ob sie dort wohl immer noch nisten?

Wir fahren zu ihrer "Taiga". Die Vögel haben sich beruhigt und mit der neuen Situation abgefunden. Es wird noch ganz schön. Schön, daß wir noch zusammen sind, diesen Frühling noch erleben dürfen. Wir lachen sogar, als sie mir beim Verabschieden nachruft: "Ich bang mer aber immer noch!" Ich auch!