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14.09.02 / Cranzer Tauben

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 14. September 2002


Cranzer Tauben
von Wolfgang J. Hochhaus

Unübersehbar, der Sommer verabschiedete sich mit einem bilderbuchhaften Altweibersommer. Alle Sinne nahmen den Herbst wahr. Die Laubbäume glühten in allen Farbschattierungen von grün, gelb, rot und braun. "Wälder, in denen der Herbst verbrannt wird", schrieb einst Günther Eich. Rauhreif lag auf Wiesen und Äckern, man schmeckte förmlich die herbe Frische des Herbstes. Die Kartoffelernte eingebracht und die Kartoffelfeuer auf den Feldern er- loschen. Hier und da kündeten Brandstellen von dem vergangenen Schmaus. Würziger Brodem gaukelte den aromatischen Geschmack von gerösteten Kartoffeln vor.

Als Stadtjunge aus Königsberg zog ich mit den Eltern auf das Land, und zwar nach Rossitten, gelegen auf der Kurischen Nehrung. Wir wohnten bei einem Bauern. Dieses Dorf unterschied sich von den üblichen Nehrungsdörfern insoweit, als es vielerlei bot und dadurch gar weltbekannt wurde, jedenfalls in einschlägigen Kreisen. Hier nämlich entstand die erste Vogelwarte der Welt, gegründet von Professor Thienemann. Ferner existierte eine der ersten Segelflugschulen, begünstigt wegen der ausgeprägt herrschenden Thermik über Haff, See und Wanderdünen. Weltrekorde wurden geflogen, z. B. von Ferdinand Schulz. Neben diesen Wirkungsstätten betrieb man in Rossitten Land- und Forstwirtschaft sowie natürlich Fischfang auf dem Haff - Sommer wie Winter - und auf der Ostsee. Diese dörfliche Welt genoß ich als Stadtkind unbekümmert mit all meinen Sinnen, und noch heute als Senior spendet mir jene Zeit Kraft für den Alltag.

"Willst' morgen früh mit auf Krähenfang?" fragte mich Hein, der Sohn des Bauern. "Mußt aber früh um Seeger sieben fertig sein", setzte er warnend hinzu. Und ob ich wollte! Mutter hatte nichts dagegen und so stand ich pünktlich, leicht verschlafen auf dem Hof. Hein, wenige Jahre älter als ich, erschien mir als Vorbild bei allen anfallenden Arbeiten auf dem Hof, Feld, Haff wie im Wald. Sofern möglich, eiferte ich ihm nach. Er belud gerade einen Handwagen mit erforderlichem Gerät. Schließlich griff er behandschuht in eine Karnickelbox, packte nacheinander zwei aufgeregt hackende, krächzende Krähen und steckte sie in einen Sack. Es handelte sich bei ihnen um Lockkrähen, wie ich schon wußte.

Wir spannten uns vor den Wagen, zogen in Richtung See bis hin zu einem abgeernteten Kartoffelacker. Die Morgenkühle ließ uns schubbern, über Bodensenken wallte Morgennebel, und Rauh-reif versilberte in den ersten Sonnenstrahlen Gräser und Gebüsch. Hein schnüffelte und prüfte, wonach er bemerkte: "Wird noch'n ganz schöner Tag. Gerade richtig für uns'ren Krajefang!"

Inzwischen gelangten wir auf den Acker. Hein machte sich sogleich an die Arbeit, ich half mit Handreichungen. Einen kleinen hölzernen Dreibock stellte er auf, den ich mit Kartoffelkraut auf drei Seiten verkleiden mußte. So entstand eine primitive Hütte. Ostwärts in etwa 15 Meter Entfernung verscharrte Hein in lockerer Erde das gefaltete Schlagnetz mit dem Schlagholz. Die Zugleine, ebenfalls locker in der Erde verborgen, führte zur Hütte. Schließlich pflockte Hein unsere beiden Lockkrähen im Schlagbereich des Netzes an, verstreute Hafer, tilgte alle auf Krähen verdächtig wirkenden Spuren. Beide kauerten wir nun in der Hütte, gespannt wartend der kommenden Dinge. Ab und wann starrte Hein durch eine Lücke gen Himmel. Über die Felder wehte ein leichter Wind.

Da! Deutlich erkennbar zogen Scharen von krächzenden Krähen am Himmel dahin. Mucksmäuschenstill und erwartungsvoll lauerten wir. Hein stieß mich an: "Kiek hin, da scheren welche aus und trudeln auf uns zu!" Tatsächlich, unsere Lockkrähen erhielten Gesellschaft, die goldenen Haferkörner verführten sie.

Mittlerweile hüpften und pick-ten sieben Krähen im Schlagbereich. Hein ergriff das Querholz am Leinenende, zog ruckartig, der Schlagstock riß das Netz hoch, und es schlug über den aufflatternden Krähen zusammen. Eine entkam gerade noch ihrem Schicksal und zog wütend krächzend ab.

Indessen krabbelten wir aus unserer Deckung, eilten auf die aufgeregt zappelnde Schar hin. Hein zog Handschuhe an, packte einen der Vögel, der wütend um sich hackte. Er jedoch hielt ihm mit der einen Hand den Schnabel zu und mit der anderen bändigte er Flügel und Krallenfüße. Die Krähe, auf diese Weise wehrlos, zog er unter dem Netz hervor, führte ihren Kopf zum Mund und biß kurz und schnell in ihre Schläfen.

Mich schauderte, ich war empört! "Na, was hast', Lorbaß? Der Tod durch'n Krajebieter is' schmerzlos, und, vor allem, es fließt kein Blut. Das würde die Krähen mißtrauisch stimmen und dann hilft auch keine Lockkrähe mehr." Gerade erst vor einigen Tagen sah ich, wie Heins Oma ein Huhn schlachtete, es ihr vom Hauklotz entglitt und dieses kopflos im Schweinekoben herumflatterte. Viele Nächte brauchte ich, um dieses schreckliche Bild zu verarbeiten. Verglichen damit erschien mir die Krajebietermethode nun hinnehmbar. Dieser Hergang wiederholte sich öfter, und gegen Mittag räumten wir das Schlachtfeld.

Hein hatte an die Stücker 50 Krähen an den Füßen zusammengebunden. Richtiger: 10 davon extra, und die überreichte er mir: "Da, Lorbaß, dein Lohn. Deine Mutter wird sich freuen, zum Abendbrot mal was and'res anbieten zu können. In den feinsten Lokalen werden sie geschmort und gesotten, dann als ‚Cranzer Tauben' serviert. Sind ja uner- fahr'ne Tiere, also jung und deshalb schmackhaft." So zogen wir mit unseren Pungels auf dem Karren heim.

Aufgeregt und Lob erwartend stürmte ich mit meinem Bündel Krähen in die Küche zu Mutter, hielt es ihr hin: "Leck're Cranzer Tauben, Mutter. Vater wird über das Abendbrot staunen!"

Entsetzt prallte sie zurück. "Igitt, igitt, Jung', das sind doch Krähen!"

"Richtig, Mutter, Hein und ich haben sie gefangen, und geschmort sollen sie prima schmecken." So recht überzeugte ich sie wohl nicht. Dennoch nahm sie mir das Bündel zögernd ab, wobei sie zweifelnd äußerte: "Na, wenn das man stimmt, Jungche."

Befriedigt verzog ich mich in die Stube, erfüllt von Stolz über meine gute Tat. Aber auch erfreut darüber, daß es zum Abend kein Klunkermus, sondern gebratene Tauben geben würde. Über diesen Gedanken muß ich wohl eingeschlafen sein. Immerhin stand ich schon seit 7 Uhr auf den Beinen. Aufgeschreckt wurde ich durch Mutters Geschrei, und schlaftrunken taumelte ich zu ihr. Um sie herum stiebten schwarze Federn. Mutter kratzte sich ständig am Kopf, an den Beinen, überall. Entsetzt kreischte sie: "Flöhe, nichts wie Flöhe! Alles voll von diesen Biestern" und wies auf die halbgerupften Krähen: "Schaff' sie bloß aus'm Haus!"

Über das Geschrei steckte die Bäuerin ihren Kopf durch die Küchentür. "Erbarmung, Frau, was is' los?!" Mutter deutete auf die herumliegenden Vögel. Verärgert stieß sie hervor: "Ungeziefer! Überall juckt's!" - "Ei, haben Sie de Kraje nich' überbrüht? Hat denn Hein, der Schlingel, nichts davon gesagt?"

Vorwurfsvoll erwiderte Mutter: "Nei, hat mir keiner was nich' gesagt." - "Ei", meinte beschwichtigend die Bäuerin, "dann machen Sie das man. Die Biester von Flohchen hucken nich' lang' auf'm Menschen. Verschwinden bald."

Abends roch es im ganzen Haus nach Geschmortem, und baß erstaunt blickte Vater auf seinen Teller, wo appetitlich zwei Cranzer Tauben ihn andufteten.

Luise Dannehl malte dieses stimmungsvolle Bild von "Fritz an der Gutstränke". Auf meisterliche Art zeigt es das ländliche Leben im alten Ostpreußen. Das Motiv ist in dem neuen Kalender "Ostpreußen und seine Maler" enthalten, der auch im Jahr 2003 wieder viele Freunde finden wird. Künstler wie Marianne Flachs, Hans Beppo Borschke, Hans Hartig, Eduard Anderson, Karl Storch d. Ä., Werner Riemann, Anna v. Glasow oder Robert Hoffmann-Salpia sind mit Beispielen aus ihrem Schaffen vertreten; ein Schaffen, das die Schönheit der ostpreußischen Landschaft ebenso zeigt wie es den Fleiß seiner Bewohner dokumentiert, seien es die Eisfischer auf dem Kurischen Haff, seien es Lommenschiffer oder Bauernjungs an der Pferdetränke. Der Kalender "Ostpreußen und seine Maler" auf das Jahr 2003, für den die Kulturabteilung der Landsmannschaft Ostpreußen die Bilder auswählte, kann noch bis zum 30. September zum Vorzugspreis von 18 Euro inklusive Versandkosten (später 20,50 Euro) direkt beim Schwarze Kunstverlag, Richard-Strauß-Allee 35, 42289 Wuppertal, Telefon 02 02 / 62 20 05/06, Fax 02 02 / 6 46 31, bestellt werden.