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14.09.02 / Unwetter 1867: Die große Rattenplage

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 14. September 2002


Unwetter 1867: Die große Rattenplage
Regenfälle stürzten ganz Ostpreußen ins Elend
von Ruth Geede

Und der Regen regnete jegliche Stund'... Ja, so war es in diesem Sommer, der in seiner ersten Hälfte Felder und Gärten in Morast verwandelte, Bäche zu reißenden Strömen anschwellen ließ, ganze Dörfer unter Wasser setzte und Urlauber von den Campingplätzen schwemmte. Schon sprach man von einem Katastrophensommer und bezeichnete ihn als ein Produkt der von Menschen verursachten Klimaveränderung. Darüber soll hier nicht diskutiert werden, sondern ich will ganz einfach von einem wirklichen Katastrophensommer berichten, der Ostpreußen so hart traf, daß sich die Menschen noch nach Jahrzehnten davon erzählten und die Erinnerung an das Notjahr bis heute erhalten blieb. In der Literatur wie aber auch in mancher Familienchronik, so wie in der meiner mütterlichen Linie.

Es war der Sommer anno 1867, als die Sonne vor allem über dem Norden unserer Heimat aufhörte zu scheinen. Hermann Sudermann schildert in seinem "Bilderbuch meiner Jugend", daß von Juni an kein Lichtstrahl und kein Fitzelchen Blau über der Memelniederung stand und aus den Wolken ein ewig sickernder, suppender, trommelnder Regen fiel. Wie der Roggen verfaulte, wie die Felder zu Sümpfen wurden und die Kartoffeln im Naß erstickten.

Der in Lyck geborene Schriftsteller Horst Biernath hat diesen furchtbaren Sommer in seiner Erzählung "Erlkönig im Memelland" dokumentiert. Er läßt eine urgroßmütterliche Freundin von diesem Notjahr berichten, in dem sie das wohl erschütterndste Ereignis ihrer Kindheit erlebte.

Ihr Vater wollte mit seinem an der "Bräune" - wie man damals die Diphtherie nannte - erkrankten Sohn nach Heydekrug zum Arzt, die letzte Rettung für den Achtjährigen. Trotz der als unpassierbar geltenden Wege fuhr er mit dem Wagen los, wohlweislich hatte er neben dem Gespann auch einen Rappen als Handpferd gesattelt. Das rettete ihm und seinem Sohn das Leben, denn nach etwa zwei Meilen geschah etwas Grauenvolles: im diffusen Licht der Regennacht kam ihnen eine graue Welle entgegen, zwang die Pferde zum Aufbäumen, kroch an ihren Leibern hoch, schwappte in den Wagen und verbiß sich in den Beinen und Händen des Vaters.

Es war ein unübersehbarer Zug von Wanderratten, die aus den überschwemmten Gebieten flohen und hungrig und gierig nach allem Lebenden trachteten. Der Vater konnte in letzter Kraftanstrengung auf das Handpferd wechseln und - das wimmernde Kind im Arm, die grauen Trauben von Ratten mit dem Messer abwehrend - Heydekrug erreichen, wo der Arzt seinen Sohn durch einen Luftröhrenschnitt rettete. Von den zurück-gelassenen Pferden blieb nur das blanke Gerippe, selbst das Zaumzeug war angefressen, die Lederdecken zernagt.

Die Ratten waren die Vorboten der großen Hungersnot gewesen, die dann über die Menschen hereinbrach. Und sie wanderten weit, wanderten bis in die Heimat meiner mütterlichen Vorfahren, in die grüne, fruchtbare Ebene des östlichen Ostpreußen zwischen Stallupönen und Eydtkuhnen, wie Ebenrode und Eydtkau damals hießen.

Und da setzt die Geschichte ein, die in unserer Familie erzählt wurde. Meine Mutter pflegte, wenn sie den Deckel der alten blaugestrichenen Holztruhe, die sie in die Königsberger Stadtwohnung mitgenommen hatte, hochhob, auf eine Inschrift im Innendeckel der Truhe zu zeigen. Da stand noch deutlich zu lesen: "Es herrschte ein furchtbares Wetter, es regnete Tag und Nacht und war ein Sturm, daß des Nachbar Kussats Magd angeflogen kam wie ein Ent'!" Urgroßvater hatte dies in der Truhe vermerkt.

Wir Kinder lachten natürlich und stellten uns vor, wie die Magd mit ihren weiten Röcken angeflogen kam "wie ein Ent'", aber Mutter schüttelte den Kopf und sagte: "Ihr ahnt nicht, wie schlimm das damals gewesen sein muß." Und sie begann zu erzählen, wie ihre Großmutter es ihr berichtet hatte. Wie es unaufhörlich regnete und stürmte, wie der Roggen und Weizen verfaulte, das Vieh krepierte, die Kartoffeln nicht einmal walnußgroß wurden und der nasse Hafer in der geheizten Gesindestube und in der Küche getrocknet wurde.

Und dann kamen die Ratten. Sie krochen in Ställe und Scheunen, fraßen das Futter in den Trögen wie Raufen und fielen über die noch verbliebenen Vorräte her. Die ersten hatte man noch mit Fallen und Gift bekämpfen können, auch die Hofkatzen taten ihre Pflicht, aber es wurden immer mehr. Die Katzen erkrankten und verkrochen sich, die Ratten wimmelten selbst am Tag über den zum Morast gewordenen Hof und drangen bis in das Wohnhaus, in dem man jede Ritze verstopfen, jeden möglichen Einschlupf vernageln mußte. Verzweiflung machte sich breit, auch Resignation. Den frommen Urgroßeltern - Nachfahren Salzburger Exilanten - blieb nur das Gebet und die Hoffnung auf ein Wunder.

Und das geschah. Es kam langsam und unerwartet.

An einem Morgen, als die Kleinmagd die hintere Küchentüre öffnete, schrie sie entsetzt auf: Auf der Schwelle lagen fünf tote Ratten, fein säuberlich nebeneinander. Es blieb ein Rätsel, wer die Ratten da wohl hingelegt hatte. Nicht nur an diesem Morgen: Auch am nächsten Morgen lagen wieder auf der Schwelle ein paar tote Ratten, akkurat präsentiert wie eine Jagdstrecke. Und genauso am dritten Morgen. Aber da hatte der Großknecht schon entdeckt, daß auch hinter der Scheune ein paar tote Ratten lagen - säuberlich aufgereiht wie auf der Küchenschwelle.

Er legte sich auf die Lauer und kam am nächsten Morgen aufgeregt zum Urgroßvater gelaufen, um von seiner kaum glaubhaften Entdeckung zu berichten: Es war eine Katze, klein, mager, mit fahlgelbem, verschmutzten Fell und spitzigem Gesicht. Solch eine Katze hatte man hier noch nie gesehen. Man schüttelte den Kopf, und Urgroßmutter ordnete an, von nun an jedem Abend ein Schüsselchen Milch vor die Küchentür zu stellen. Das war dann am nächsten Morgen leer, und die Schwelle voll von toten Ratten.

Nie ließ sie sich am Tag sehen, die Katz', wie sie genannt wurde. Während man von den Hofkatzen liebevoll als "Katzchen" sprach und ihnen Kosenamen gab, sie mit zärtlichem "miez-miez" lockte, blieb es bei dieser kurzen, lieblosen Bezeichnung, die Leute sprachen auch von "de geele Katt"! Sie wirkte irgendwie unheimlich, die Katz', die man nur manchmal in der Dämmerung über den Hof huschen sah, klein, geduckt, ein gelber Schatten, um dann in der Scheune oder in den Ställen zu verschwinden. Der Großknecht behauptete, er wüßte schon, wo sie am Tag schlief, und er dürfte sich ihr auch nähern, aber streicheln ließ sie sich nicht. Ihr Milchschüsselchen aber war immer leer, und auch die dazugelegten Stichlinge, die von den Kindern für die Katz' gefangen wurden, waren verschwunden.

Aber dann war sie eines Tages fort, so heimlich, wie sie gekommen war. Aber da gab es kaum noch eine Ratte auf dem Hof. Der Großknecht meinte, die letzten Ratten seien weitergezogen und mit ihnen die Katz', dieser gelbe Rattenfänger.

Ja, so geschah es damals in dem Katastrophensommer 1867, in dem viele Menschen des Hungers starben oder von ihren Höfen mußten. Wer kann sich heute noch ein Bild von solchen Notjahren machen? Von den Seuchen wie dem "Brunnenfieber", wie der Typhus genannt wurde? Ich sehe noch die fünf kleinen, alten Gräber, die in einer Reihe auf dem kleinen Friedhof mitten in den Feldern lagen. Die Urgroßeltern hatten fünf ihrer Kinder innerhalb einer Woche begraben müssen - sie waren alle an der Bräune gestorben!

Die Not im Unglücksjahr 1867 war groß, aber groß war auch die Hilfe. So wurden allein im Kirchspiel Lappienen, das besonders hart betroffen war, vom Vaterländischen Frauenverein 17 Suppenanstalten, zumeist in Schulen, eingerichtet. Täglich wurden hier während der Wintermonate 1.000 Menschen unentgeltlich gespeist. Da die Menschen ja nicht nur um ihr Brot, sondern auch um ihren Lohn gekommen waren, gab es Hilfsaktionen, die man heute als "Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen" bezeichnen würde. Die Regierung ließ den Chausseeneubau von Neukirch nach Lappienen in Angriff nehmen, so daß viele Männer dort Arbeit fanden. Über 10.000 Taler wurden als Lohn ausgezahlt. Der Hilfsverein für Ostpreußen unter Protektion des Kronprinzen konnte über 8.000 Taler an Spinnerlohn für arbeitswillige Frauen ausgeben. Auch der Oberburggraf von Keyserlingk in Rautenburg beteiligte sich an der Bekämpfung des Notstandes. Obwohl das Gebiet der Grafschaft selbst unendlich gelitten hatte, errichtete der Graf in Rautenburg auf seine Kosten ein Magazin von Königsberger Getreide, das in kleinen Mengen an die Betroffenen abgegeben wurde. Über 9.000 Scheffel Getreide, meistens Brotkorn, kam so in dieses Notstandsgebiet zu einer Zeit, als die Märkte in Lappienen und Seckenburg mitunter keinen einzigen Scheffel Getreide zu bieten hatten. Dazu kam noch der schwierige Transport von Tilsit nach Rautenburg hinzu, denn die schweren Wagen wurden von abgemagerten Pferden über kaum passierbare Wege gezogen. Dieser harte Winter nach dem Katastrophensommer, in dem die Ernte vollkommen vernichtet wurde, blieb in der Bevölkerung unvergessen.