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28.09.02 / Insel der vertriebenen Seelen

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 28.September 2002


Insel der vertriebenen Seelen
Neuer Roman betrachtet Vertreibung und ihre Folgen von innen

Dieser Roman des Dresdner Schriftstellers Jörg Bernig, Jahrgang 1964, ist eine der wichtigsten Neuerscheinungen des Jahres. Er spielt im Spätsommer 1946 im Sudetenland. Die deutschen Dörfer sind systematisch leergeräumt worden - "ethnisch gesäubert", sagt man heute - von den berüchtigten "Revolutionsgarden", paramiltärischen, aus zweifelhaften Elementen zusammengesetzten Banden, die das Macht- und Gesetzesvakuum nutzen und ihre gewalttätigen Instinkte ausleben.

Schauplatz ist ein entlegener Ort an der deutsch-tschechischen Grenze. An diesem noch unentdeckten Punkt haben sich Flüchtlinge unterschiedlicher Herkunft zusammengefunden: Da ist die junge Theres, eine Deutsche, deren Vater nach dem Anschluß des Sudetenlandes an der Enteignung von Tschechen mitgewirkt hat. Der Vater wurde im Mai 1945 umgebracht, sie selber mißhandelt, ihre Mutter ist verschollen. Zuflucht gefunden haben eine Witwe und ihr scheinbar debiler Sohn. Ihr gänzlich unpolitischer Mann ist von Gardisten aus einem Flüchtlingstreck wahllos herausgegriffen und zu Tode gequält worden. Zwei junge Tschechen, Freunde, die aus Gewissensgründen von der Revolutionsgarde desertiert sind, komplettieren die Notgemeinschaft.

Auf der Flucht vor Terror und kumulierendem Massenwahn bilden sie eine kleine, solidarische, binationale Welt, in der die ethischen Gesetze, die draußen außer Kraft sind, noch immer - oder schon wieder - wirken. Der Welt für einen Augenblick enthoben, leben sie in einer existentiellen Grenzsituation, in "Niemandszeit", an "Niemandsort". Ihr Grundgefühl aber ist die Angst, daß ihre Zeit nur gestundet ist und der Jagdinstinkt der Garden ihr ein Ende setzen wird.

Es gibt eine Fülle von literarischen Werken, die das Vertreibungsthema aufgegriffen haben, doch handelt es sich zumeist, gattungsgeschichtlich gesprochen, um Reportagen, die sich auf die Beschreibung der äußeren Vorgänge beschränken und im Moment des Abschieds und Verlusts enden. Sie beein- drucken durch die schiere Wucht der geschilderten Ereignisse, doch an eben dieser Wucht scheitern auch ihre Erklärungsversuche. Insofern bedeutet Jörg Bernigs Roman eine Premiere. Er setzt die Geschehnisse weitgehend voraus beziehungsweise beschränkt sich darauf, sie anzudeuten. Wichtiger ist es ihm, ihre verschiedenen Bedeutungen zu erfassen. Was zum Beispiel geschieht mit Menschen, die von einem Moment auf den anderen heimatlos werden, denen mit dem Argument des historischen und moralischen Rechts außer ihrer juristischen auch jede private Schutzhülle genommen wird? Bernig beschreibt die Innenseite eines millionenfach erlebten deutschen - und nicht nur deutschen - Traumas.

Die Fabel ist so angelegt, daß in ihrem Zentrum keine nationalen Konfrontationen stehen. Das Handeln des Menschen wird eben nicht zwingend von seiner Herkunft und dem äußeren Rahmen, in den er gerade gestellt ist, determiniert. Es gibt Freiräume, welche die Möglichkeit der individuellen Entscheidung eröffnen. Darin liegt die Hoffnung für das menschliche Zusammenleben. Aber: Ist erst ein bestimmter Grenzwert an Unrecht überschritten, dann brechen die Dämme, dann ist es unter dem kollektiven Druck für den einzelnen lebensgefährlich, sich dem Gewaltsog zu entziehen und bei der Beurteilung des Anderen jenen feinen Unterscheidungen Geltung zu verschaffen, die im zivilisierten Leben unerläßlich sind. In solchen Situationen, in denen der Rausch der Allmacht und das Gefühl völliger Machtlosigkeit sich verschränken, verfehlen die Menschen sich gleichermaßen. Sie sind unlebbar und eigentlich unaussprechbar, man darf sie gar nicht erst zulassen.

Nur ein einziges Werk der deutschen Gegenwartsliteratur bietet sich zum Vergleich an: Hans-Ulrich Treichels Erzählung "Der Verlorene", die aber erst rück-blickend, aus der Perspektive des nachgeborenen Sohnes, erzählt wird. Noch deutlicher sind die Parallelen zu dem Roman "Tod in Danzig" des polnischen Schriftstellers Stefan Chwins oder den Erzählungen seines Landsmanns Pawel Huelle.

Doch was wäre das kluge Konzept eines Autors, wenn er nicht das schriftstellerische Handwerk dazu hätte? "Niemandszeit" ist kein Debüt, denn Bernig hat schon einen Gedichtband, "Winterkinder", und einen psychologisierenden Roman, "Dahinter die Stille", veröffentlicht. Beide haben zwar nicht viel Aufmerksamkeit gefunden, als Vorübungen zu diesem Roman haben sie jedenfalls ihren Zweck erfüllt. Bernig arbeitet mit Vor- und Rückblenden, der Leser weiß von Anfang an mehr als die Figuren. Durch diesen Kunstgriff verlegt der Autor die Spannung nach innen. Der Erzählfluß wird durch rhetorische Fragen unterbrochen, die Sätze sind oft kurz, abrupt, als müsse das Ungeheuerliche sich erst seinen Ausdruck suchen.

Die gestundete Zeit taucht in der Person des Thomas Andel ("Engel") auf, einem jungen Tschechen, der mit Theres ein Verhältnis hatte, aber von ihrem Vater denunziert und zur Zwangsarbeit verschleppt wurde. Er sucht Theres, um ihr das schreckliche Schicksal der anderen Deutschen zu ersparen, und betätigt sich deshalb als Spürhund der Garden. Er wächst langsam in die Rolle eines sanften, gefürchteten Todesengels hinein und führt, gegen seine Absicht, die endgültige Katastrophe herbei.

Zu monieren ist eine einzige Stelle, an der raunend-tiefgründelnd gefragt wird: "Und woher nahmen die Tschechen die Abscheu für die Deutschen, mit denen sie in einer Stadt lebten? Erscheint das wie aus dem Nichts, und von dem Augenblick an, da es vorhanden ist, ist es allen das Schon-immer-Dagewesene?" Ein Blick auf die Geschichte Böhmens, die Topographie Prags oder in die frühen Erzählungen Rilkes hätte einiges beantwortet. Das jahrhundertelange deutsch-tschechische Nebeneinander in Böhmen war einerseits fruchtbar, doch stets auch von Unterwerfungen, Komplexen und Ressentiments, von auftrumpfender Rechthaberei, Hochmut und Überwältigungsängsten gekennzeichnet. Die politische Hybris des 20. Jahrhunderts hat diese destruktiven Energien Oberhand gewinnen lassen.

Günter Grass hat mit seiner "Krebsgang"-Novelle, deren literaturpolitischer ihren literarischen Wert weit übertrifft, das Thema der Vertreibung der Deutschen endgültig hoffähig gemacht. Jörg Bernig zeigt nun, wie man ihm auch literarisch gerecht wird. Thorsten Hinz

Jörg Bernig: "Niemandszeit", Deutsche Verlags-Anstalt Stuttgart, München 2002, 283 Seiten, 19,90 Euro