28.03.2024

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28.09.02 / Grüße aus der Vergangenheit

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 28.September 2002


Grüße aus der Vergangenheit
von Gabriele Lins

Das Aufräumen von Schränken oder Schubladen mag ich nicht besonders, doch heute ist das ganz anders, denn in der hintersten Ecke meines Schrankes finde ich ein Kästchen mit vergilbten Briefen und bunten Postkarten. Neugierig überfliege ich einige und bin betroffen; da liegen ja wahre Schätze vor mir!

Nun ist mir das Aufräumen egal, ich lasse alles stehen und liegen und vertiefe mich in die Zeilen der Menschen, die damals an mich gedacht haben, ich sehe und höre nichts mehr, versinke in eine vergangene Zeit ...

Allein die verschiedenen Handschriften wären eine Fundgrube für Graphologen. Da ist ja die Schrift unserer Gruppenschwester Maria Cresina, klein und doch energisch. Kein Weihnachts- und Osterfest verging ohne ihre liebevollen Grüße. Ich sehe sie wieder vor mir, die kleine rundliche Nonne mit dem Grübchengesicht und den fröhlichen Augen. Sie brachte uns außer Gebeten auch Lebensweisheiten bei und über ihre mißglückten Witze muß ich heute noch lachen.

Und jetzt fällt mir ein Gruß von Max in die Hand, den ich aus meiner Kindergartenzeit her kenne, lange ist es her. Er verbrachte seinen Urlaub immer auf der Insel Elba und schickte mir jedes Jahr eine Karte von dort. Diesmal springt mir außer seiner Unterschrift eine zweite in die Augen; da steht doch wahrhaftig der Name "Millowitsch", der damals ein Haus auf der Insel hatte und Max manchmal auf dem Markt traf.

Die Karte mit Noten und ungarischem Text, die ich nun aus meinem Zauberkästchen ziehe, stammt von Lendyai Ferenc, einem begnadeten Geiger. In Gedanken sitze ich wieder im Csárdàslokal und höre seine Melodien. Er konnte aber auch auf einer Schnapsflasche spielen, die er vorher leergetrunken hatte. Man glaubt es kaum, aber "schwarzer Zigeuner" klang darauf genauso wunderbar wie auf seinem Instrument. Mit Ungarn verbinden mich die schönsten Erinnerungen: Vor meinen Augen dehnt sich wieder der schilfumwachsene Balaton; bunte Boote am Ufer - Wasser und Himmel - abends Bratwurstdüfte vom Grill - mondüberglänzte Wellen, Gitarrenklänge ... Da war meine Familie noch zusammen; jetzt sind die Kinder aus dem Haus.

Ich bin richtig süchtig nach weiteren Zeichen aus der Vergangenheit geworden.

Die Karte mit dem unendlich blauen Wasser stammt von Freundin Zlata aus dem früheren Jugoslawien. Sie war mit ihrer Familie aus ihrem Land geflohen und wir nahmen sie eine Weile bei uns auf. Doch als sie ihren Mann verlor, zog sie mit den kleinen Söhnen in eine andere Stadt, wo sie Arbeit bekommen hatte. Irgendwann wurden ihre Briefe spärlicher und blieben dann aus. Jahre später bekam ich ihre Todesanzeige. Zlata - ich lasse den Namen auf der Zunge zergehen - Zlata, die Goldene. Sie lachte so gern.

Ich blättere weiter in den Schätzen von damals und ziehe einen Brief meines Lehrers hervor, in dem er mich mitsamt der Familie zu sich einlädt. Herr Peppersack - wir nannten ihn liebevoll "Pfeffersäckchen" - hatte stets ein amüsiertes Lächeln in den Mundwinkeln. Wie hat er sich bemüht, mir die verhaßte Mathematik ein bißchen näherzubringen. In mein Abschlußzeugnis setzte er eine wohlwollende Vier hinter "Mathematik", und ich glaube, die hatte ich gar nicht verdient. Ob es solche Lehrer auch heute noch gibt?

Der Brief aus einem Kinderheim rührt mich auch noch nach so vielen Jahren; besonders sprechen mich die Zeilen der zehnjährigen Hildegard an: "Ich freue mir, wenn ich widder zu dich kommen darf!" Schwester Antone, die das Kind aus schwierigen Verhältnissen betreute, fügte hinzu: "Liebe Frau Zierl, ich bete für Sie!"

Ah, jetzt ein Weihnachtsgruß meiner besten Schulfreundin, aber der macht mir das Herz schwer. "Ich bin im vergangenen Jahr bestrahlt worden", schrieb sie in zitterigen Buchstaben, "es heilt so schlecht ..." Carola hatte vier Schwestern und wollte selbst eine große Familie gründen. Das hat sie nie geschafft. Sie starb mit fünfunddreißig Jahren. Wie traurig!

Wahllos ziehe ich einen weiteren Brief aus dem Kästchen. Der Brief eines Rentners aus der früheren DDR. Besuchte er seine Tochter, die auch heute noch zwei Häuser neben mir wohnt, sah er jedesmal kurz bei mir herein. Hier kann ich nun wieder schmunzeln, er schreibt: "Mein hundertster Geburtstag fällt auf den 1. April im Jahre 2002. Der guten Plätze wegen habe ich Ihr Kommen vornotiert. Hoffentlich ist unser altes Berlin bis dahin wieder so schön wie es einmal war. Aber bis dahin müssen sich die Menschen noch etwas ändern."

Die Letzte in der bunten Reihe ist die Karte meiner Klassenlehrerin. "Wir haben deine Verwandten getroffen", teilte sie mir aus Salzburg mit, "wie schade, daß du nicht dabei warst." Den Spitznamen ‚Pisa' - nach dem schiefen Turm - hatte sie ihrer Größe zu verdanken und ihrer leicht schrägen Haltung nach links. Wenn sie guter Laune war, sang sie uns etwas vor; die Schüler in der ersten Bank wußten, was kam und duckten sich schon vorher, denn Pisa versprühte freigebig ihren Speichel.

Auch später telefonierte ich manchmal mit ihr, um meine Sorgen loszuwerden. Wieder höre ich ihre tiefe Stimme am Telefon: "Kind, nimm's gelassen. Gott fügt es schon." Sie nannte mich immer noch liebevoll ‚Kind' , obwohl ich schon Fünfzig war. Noch heute besuche ich ihr Grab, wenn ich in der Stadt bin. Vielleicht weiß sie es und freut sich darüber?

Schicksale in Briefen und Postkarten.

Schön, daß ich euch gekannt habe, denke ich wehmütig, weil mir plötzlich bewußt wird, daß diese Menschen alle nicht mehr leben. Mit jedem durfte ich ein Stück meines Weges gehen und jeder hat mir etwas von sich gegeben. Ich werde diese Grüße aus der Vergangenheit weiterhin sorgsam bewahren, denn sie sagen mir, daß einmal liebe Menschen an mich dachten. n

 

Leere Muscheln
von Konstantin Haase

Im Schweigen wird das Wort

schwer wie Stein.

In der Hoffnung schlägt die Silbe

ans geschlossene Tor.

Das Zerfallen ist wie Verwandlung,

es ist das Rauschen der Muscheln

im Wind, am Meer, am Ohr.