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05.10.02 / Familie: Von der Prinzessin zum Aschenputtel

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 05. Oktober 2002


Familie: Von der Prinzessin zum Aschenputtel
Wie ein heißes Thema sofort nach der Wahl dem Vergessen anheimfällt
von Jürgen Liminski

Die Vertreibung aus dem Paradies läßt sich auf den Tag genau festlegen - und zwar periodisch. Am vergangenen 23. September war es wieder soweit. Da wurden die Familien aus dem politischen Garten Eden vertrieben, auch ohne Sündenfall. Und in drei Jahren, wenn sich die Wahlen erneut nähern, werden die Götter auf dem Berliner Olymp wieder das Paradies auf Erden versprechen. Das hat übrigens viele Namen: Mehr Kindergeld, Familiengeld, Erziehungslohn, mehr Plätze im Kindergarten, mehr Lehrer, mehr Flexibilität in den Betrieben, mehr Teilzeitjobs, weniger Steuern und Sozialabgaben für Familien, mehr Gerechtigkeit, bessere Vereinbarkeit. Mehr, besser, alles - das Paradies eben.

Aber die Familie muß jetzt leben. Junge Leute wollen jetzt planen. Das Warten am Zaun oder Tor zum Paradies ist kein Lebenskonzept. Schrittweise werde man sich dem großen Ziel nähern, behaupten die Olympioniken, und sie übersehen, daß die Institutionen Ehe und Familie sich schrittweise auflösen. In großen Städten bestehen die Haushalte zur Hälfte bereits aus Einzelpersonen. In Berlin, Frankfurt, Hamburg, Düs- seldorf, München bestimmen Singles, Dinks (Double income no kids - doppeltes Einkommen, keine Kinder) und Oldies die Wohnstruktur und den Markt. Und mit dem Markt auch das öffentliche Leben und Lebensgefühl, wenigstens in den Medien. Auch die Scheidungsziffern in Deutschland boomen. Das letzte Jahr erlebte einen traurigen Doppelrekord: Noch nie gab es so viele Scheidungen (197.500), noch nie so wenig Eheschließungen. Die Bindungsangst geht um. Das ist der Fluch der Spaßgesellschaft.

Es bleibt nicht bei der Vertreibung aus dem Paradies. Wie alle vier Jahre hat man, um ein anderes Bild zu gebrauchen, das Aschenputtel Familie für eine Zeitlang zur Prinzessin gemacht. Der Wahlkampf ist der Ball mit dem Prinzen. Das arme Mädchen in Grimms Märchen darf am Ende ihren Prinzen behalten, weil der sie wirklich sucht. Das ist bei den Prinzen in unserer Politik seit Jahrzehnten nicht der Fall, und deshalb wird die Prinzessin regelmäßig wieder zum Aschenputtel. Es muß ja nicht so sein wie im Märchen, in dem Aschenputtel unter dem Baum auf dem Grab seiner Mutter sagt: "Bäumchen, rüttel dich und schüttel dich, wirf Gold und Silber über mich" und dann "regnet es golden und silbern Kleider" für das Fest mit dem Prinzen. Nein, es ist eigentlich schlimmer: Der Ball der Familie mit den Prinzen der Politik ist ein Tanz mit Vampiren. Man tanzt und saugt sie nachher aus.

Das gilt vor allem für die Eheleute mit Kindern. Sie werden zuerst aus dem imaginären Paradies der spaßigen Wohlstandsgesellschaft vertrieben. Bei ihnen hat man auch nicht bis zum 22. September gewartet. Eine Erhöhung des Kindesgeldes wird es jetzt doch nicht geben. Aber dafür einen Angriff auf die Ehe. Die Einführung der gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften war der erste Großangriff. Der zweite wird irgendwann in den nächsten drei Jahren mit dem Angriff auf das Ehegattensplitting erfolgen. Es soll nach dem Willen der Grünen modifiziert werden, und aus dem Erlös - man rechnet mit sechs Milliarden Mark - will man die Kosten für neue Einrichtungen zur Ganztagsbetreuung finanzieren.

Ehe wird vorwiegend gesehen als eine Lebensform von vielen. Ihre durch die Verfassung geschützte Vorrangstellung wird nicht mehr verstanden. Die Gründe für diese Vorrangstellung verblassen im politischen Diskurs. Nicht nur bei den Rotgrünen, auch in der Union macht sich ein Denken breit, das Ehe nur noch als die Lebensform mit dem Trauschein sieht. Es fehlt der tiefer gehende Blick in die Natur des Menschen. Ohne ihn fehlt auch die geistig-moralische Dimension bei der Bewertung von Ehe und Familie. Ohne diese Dimension aber verflacht die Gesellschaft. Eine Ehe- und Familienkultur kann der Gesellschaft in entscheidender Weise die notwendige geistig-moralische Kraft und innere Festigkeit verleihen, schreibt Jo- hannes Paul II. in einem Grußwort an die Teilnehmer eines Berliner Kongresses über den Stellenwert der Familie in Wirtschaft und Gesellschaft. Denn "die soziale Dimension des Menschen findet ihren ersten und ursprünglichen Ausdruck in den Eheleuten und in der Familie: ‚Gott hat den Menschen nicht allein geschaffen: von Anfang an hat er ihn als Mann und Frau geschaffen' (Gen. 1,27); ihre Verbindung schafft die erste Form personaler Gemeinschaft". Diese Gemeinschaft stiftet emotionale Stabilität.

Der Mensch ist unteilbar. Sein Grundbefinden ist dasselbe zu Hause sowie im Büro, im Atelier oder an der Werkbank. Natürlich kann er für Momente seinen Gefühlshaushalt steuern. Aber bestimmte Fähigkeiten und Kompetenzen werden, wie die Psy- chologie bestätigen kann, früh geprägt. Selbst Wirtschaftswissenschaftler haben den Wert der emotionalen Stabilität entdeckt und sie als eine Quelle ausgemacht, aus der das Humankapital sich speist. Das Humankapital ist mittlerweile zur wichtigste Ressource der modernen Wirtschaft avanciert. Ohne dieses Humankapital kommt keine Wirtschaft aus. Es sind die grundlegenden Fähigkeiten des Menschen, das Lernenkönnen, das Miteinander-umgehen-Können, Ausdauer, teilen und selbstlos geben können, nach Lösungen suchen statt zu jammern, Gefühle erkennen und einordnen, Vertrauen schenken ohne naiv zu sein, Fähigkeiten und Fertigkeiten zur Lösung von Alltagsproblemen, es sind die Kompetenzen zum Lernen, und zur Anwendung des Gelernten, es ist die soziale Kompetenz und die Fähigkeit, emotionale Intelligenz zu steuern, und viele Eigenschaften mehr. Das ist mehr als Wissen. Der amerikanische Nobelpreisträger Gary Becker, ein liberaler Ökonom, der den Begriff des Humankapitals in die Wirtschaft eingeführt hat, sagte neulich auf dem Kongreß "Demographie und Wohlstand" in Berlin: "Das grundlegende Humanvermögen wird in der Familie erzeugt. Die Schule kann die Familie nicht ersetzen."

Die Investition in das Humankapital bringt die beste Rendite. Kein Wunder, sie ist für die Betriebe und die Wirtschaft bisher gratis, es sind die Familien, die diese Investition mit der Erziehung aufbringen. Ohne emotionale Stabilität allerdings, die nicht nur ein Ergebnis der Präsenz der ersten Bezugsperson - in der Regel die Mutter -, sondern auch der inneren Ausgeglichenheit dieser Bezugsperson ist, sinken Bereitschaft und Fähigkeit zur Aufnahme neuer Lerninhalte und zum Meistern neuer Situationen. Die dafür notwendige emotionale Kraft (Motivation, Offenheit, Flexibilität etc.) ist ohne diese Stabilität weitgehend absorbiert. Lern- und Konzentrationsschwächen haben hier ihre Wurzel. Das Phänomen ist bekannt: Scheidungskinder fallen in der Schule tief, ihr Humanvermögen wird aufgerieben und verschlissen.

Steigen die Scheidungsziffern und fallen die Geburtenquoten weiter so rasant wie bisher, wird das Humanvermögen zur Mangelware. Hier ist auch die schiefe Ebene, der abfallende Grund zu erkennen, auf dem der deutsche Bildungsturm steht. Wenn Wirtschaft und Politik sich weiterhin weigern, diesen Zusammenhang zwischen Ehe und Familie und dem Humankapital zu erkennen, dann laufen auch alle Reformen im Gefolge von Pisa ins Leere.

Erziehung ist mehr als Betreuung und mehr als Wissensvermittlung. Und das "mittelständische Unternehmen Familie" ist auch mehr als nur eine Keimzelle. Es ist der Motor der freiheitlichen Gesellschaft. Der frühere Verfassungsrichter Paul Kirchhof sieht die Staatsleistung für Ehe und Familie daher durchaus im Interesse des Staates selbst. Und das nicht nur demographisch, indem die Leistung auch geburtenfördernd sein soll, sondern auch für die freiheitliche Verfaßtheit dieser Gesellschaft sei die Staatsleistung für Ehe und Familie geradezu existentiell. Er greift in diesem Zusammenhang gern auf Montes-quieu zurück, der diese Kausal- kette herstellte: Ohne Familie keine wirksame Erziehung, ohne Erziehung keine Persönlichkeit, ohne Persönlichkeit keine Freiheit. Man könnte hinzufügen als erstes Glied der Kette: Ohne Ehe keine Familie. Die Ehe ist der Kern der Familie. Die Kern-Spaltung atomisiert nicht nur die Familie, sie schwächt die Persönlichkeiten, sie schwächt das Bewußtsein und den Willen zur Freiheit, sie schwächt die Gesellschaft und macht sie auf Dauer anfällig für die Parolen der politischen Rattenfänger. Hameln liegt in Deutschland, im Norden, und wer genau hingehört hat, der konnte bis zum 22. September die Pfeifentöne vernehmen.

Der größte Wunsch der Kinder ist nachweislich und zunehmend, daß Eltern Zeit für sie haben. Dadurch erfahren sie Zuwendung und Liebe. Entwicklungspsychologische Studien zeigen eindeutig, daß die Beziehung der Kinder zu den Eltern durch niemanden ersetzt werden kann.

"Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft." So heißt es im Artikel 6 Absatz 3 des Grundgesetzes. Was sich aus diesem Grundrecht ergibt, haben die Richter/-innen des Bundesverfassungsgerichtes in ihrem "Kinderbetreuungsurteil" vom 19. Januar 1999 glasklar formuliert: "Neben der Pflicht, die von den Eltern im Dienst des Kindeswohls getroffenen Entscheidungen anzuerkennen und daran keine benachteiligenden Rechtsfolgen zu knüpfen, ergibt sich aus der Schutzpflicht des Art. 6 GG auch die Aufgabe des Staates, die Kinderbetreuung in der jeweils von den Eltern gewählten Form in ihren tatsächlichen Voraussetzungen zu ermöglichen und zu fördern. Die Kinderbetreuung ist eine Leistung, die auch im Interesse der Gemeinschaft liegt und deren Anerkennung verlangt (vgl. BVerfG 87). Der Staat hat dementsprechend dafür Sorge zu tragen, daß es Eltern gleichermaßen möglich ist, teilweise und zeitweise auf eine eigene Erwerbstätigkeit zugunsten der persönlichen Betreuung ihrer Kinder zu verzichten wie auch Familientätigkeit und Erwerbstätigkeit miteinander zu verbinden. Der Staat muß auch Voraussetzungen schaffen, daß die Wahrnehmung der familiären Erziehungsaufgabe nicht zu beruflichen Nachteilen führt, daß eine Rückkehr in eine Berufstätigkeit ebenso wie ein Nebeneinander von Erziehung und Erwerbstätigkeit für beide Elternteile einschließlich eines beruflichen Aufstiegs während und nach Zeiten der Kindererziehung ermöglicht und daß die Angebote der institutionellen Kinderbetreuung verbessert werden." (BVG-"Kinderbetreuungsurteil", S. 28.)

Die Richter bekräftigen damit praktisch das verfassungsmäßige Recht der Eltern auf "Wahlfreiheit bei der Art der Kinderbetreuung", die der Staat in ihren "tatsächlichen Voraussetzungen" zu ermöglichen habe. Was sich daraus ganz konkret ergibt, ist Gegenstand von Diskussionen und Forderungen seit Jahren. Die gängigsten Stichworte sind: Erziehungs-

lohn, Kinderfreibetrag, Wahlfreiheit, Familienwahlrecht. Nichts dergleichen. Statt dessen setzt man jetzt in einer Zeit des unabänderlichen Niedergangs demographischer Kurven auf staatliche Einrichtungen, will womöglich solche noch bauen, weil momentan noch ein gewisser Bedarf besteht, statt von dieser Objektförderung nicht auf eine Subjektförderung umzuschwenken. Subjektförderung dagegen würde den Konsum und den "Betreuungsmarkt" beleben, es würde Familien mit Kindern aus der Sozialfall-Ecke herausholen, die Kommunen entlasten und wäre auch flexibel gegenüber der demographischen Entwicklung. Es würde die Eltern nicht entmündigen, sondern in ihrer Erziehungsverantwortung stützen. Eltern hätten die Wahlfreiheit, ob sie selber betreuen und erziehen oder betreuen lassen. Und es hätte den großen Vorteil, daß man damit auch mal auf der Linie des Bundesverfassungsgerichts läge.

Das ist mit der Forderung nach mehr staatlicher Kinderbetreuung nicht der Fall. Daß diese Forderung auch von der Union erhoben wurde, macht die Sache nicht besser. Denn die Karlsruher Richter haben in ihrem Kinderbetreuungs-Urteil vom 19. Januar 1999 eindeutig das "gleichwertige" Nebeneinander von Erwerbsarbeit und Erziehungsarbeit gefordert. Mit mehr Staat wird man die Misere der Kinder und Jugendlichen in Deutschland nicht beheben können. Mit der gesellschaftlichen Projektion von Rotgrün erst recht nicht. Die Union hat dieses Feld vernachlässigt. Es wäre eine Vision wert gewesen. Wenn sie es nicht neu entdeckt und zur Priorität erhebt, droht dem Aschenputtel für die Zukunft nicht nur das Paradies, sondern auch der Prinz abhanden zu kommen.