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12.10.02 / Von Liebe und Eifersucht

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 12. Oktober 2002


Von Liebe und Eifersucht
von Eva Pultke-Sradnick

Elise war so maßlos traurig, daß es sie nicht gereut hätte, wenn ihr Leben im Moment zu Ende gewesen wäre. Was machte sie denn überhaupt in dieser fremden Stadt? Wäre sie doch nur erst wieder in ihrer kleinen Wohnung. Hatte dieser Streit mit ihrem Sohn überhaupt sein müssen, und wie war er nur entstanden?

Mache dich rar, wenn du geliebt werden willst, sagte ihre Freundin Greta immer. Aber die hatte auch gut reden, nur mit ihrem Wellensittich. Aber etwas Wahres könnte schon dran sein. Erwachsene Kinder liebten ihre Eltern, aber sie brauchten sie nicht mehr unbedingt. Sie hatten ihre eigenen Familien, eigene Kinder, mußten selbst Erfahrungen machen, brauchten keine gut gemeinten Ratschläge mehr.

Aber für sie waren Peter, Hanni und Traudel doch immer noch das Leben. Man muß loslassen können. Von wem war doch nur wieder diese weise Ausspruch? Das hatte sie ja auch alles frühzeitig getan, aber jetzt, wo ihr Mann tot war, hatte sie oft doch große Sehnsucht nach mehr Familienzugehörigkeit.

Natürlich hatte sie sich ihr eigenes Leben schon aufgebaut, so war das nicht. Sie hatte Freunde, Landsleute, war ideenreich und viele gute Bücher wollten noch einmal gelesen sein. Bis jetzt war sie ja immer der Meinung gewesen, sie packte den Lebensrest mit links. Sie brauchte noch keine Hilfe, kochte, wusch, backte, putzte Wohnung und Fenster selbst, konnte Kursbücher lesen, ihre Bankgeschäfte erledigen, sogar tapezieren und Türen streichen. Sie brauchte so selten jemanden. Höchstens mal fürs Elektrische oder die tropfende Wasserleitung. Da fand sich dann meistens ein netter Nachbar, der half. Etwas herablassend hatte Peter heute sogar gemeint, daß mit zunehmendem Alter mancher Leute Ansichten bedenklich würden. Den Schuh wollte sie sich aber noch nicht anziehen.

Was wußten denn die Jungen! Natürlich waren die Ansichten anders. Da hatte doch niemand eine Ahnung, wie es damals nach dem Krieg zugegangen war, als der schwarze Markt in hoher Blüte stand. Sie, überhaupt als Flüchtlinge, sie besaßen doch nur das nackte Leben und das, was sie auf dem Leib trugen. Damals und fast das ganze weitere Leben lang waren Fleiß und Einfallsreichtum gefragt. Ihre Kinder waren ja damals noch so klein. Ihnen wurde eine Wohnung auf dem Land zugewiesen. Ihr Mann galt noch "als im Krieg verschollen". Welch ein großes Dankgefühl, als man sich gefunden hatte. Elise arbeitete beim Bauern in der Küche und auf dem Feld. Auch Peter mußte oft mit seinen zwölf Jahren mithelfen.

Sie hatte den Zornausbruch ihres Ältesten längst verziehen. Er meinte, er hätte mehr als seine Geschwister entbehren müssen, vor allem wäre er nicht so geliebt worden. Ja, auch als Flüchtlingskind hatte er viele Empfindungen durchleben müssen. Denn sie fielen ja auf durch ihre Sprache und die oft armselige Kleidung. Aber auch durch ihr Wissen, wie schwer und ungerecht das Leben sein konnte.

Wie unrecht er ihr tat. Warum sollte sie ihn nicht so lieben wie die anderen? Dabei war der Große doch gerade ihr Stecken und Stab gewesen, mit dem sie vieles besprechen konnte. Wie oft hatten sie beide, müde von der Feldarbeit, sich umarmend, auf der Bank gesessen. Wußte er denn dies alles nicht mehr? Sie liebte doch alle ihre Kinder gleich viel. Natürlich jeden anders und wiederum für sich. Es war ja auch jedes anders veranlagt, da mußte auch jedes anders bedacht werden.

Und Peter? Gewiß, ihn hatte sie öfter tadeln müssen, weil er ungestüm, sogar frech war und den beiden anderen ein Beispiel sein sollte. Er nahm es mit vielen Dingen nicht so genau, etwa wenn er einen Kohlkopf oder zwei Zwiebeln am Feldrand fand. Fand, finden, gefunden waren überhaupt Lieblingswörter von ihm. Er hatte es ja für sie getan, das wußte sie alles - doch mußte sie mit ihm schimpfen, was sollte sonst mal aus ihm werden. Es lag alles so dicht beieinander.

Jetzt war sie zu dem kleinen See gegangen. Die Wellen plätscherten vom leichten Wind. Laubwald und niedriges Gehölz ließen den Platz etwas verwunschen aussehen. Die Abendsonne schickte ihre letzten goldenen Strahlen und ließ sie direkt in ihren Schoß und in die offenen Hände fallen. Sie betrachtete die runzligen, leicht verformten Finger. Schön waren sie nicht mehr, aber was spielte das noch für eine Rolle. Sie besah ihre Handlinien. Die rechten waren ganz anders als die linken. Ja, es war ja auch alles ganz anders gekommen als vorgesehen. Oder war es schon vor ihrer Geburt eingetragen worden, und sie hatte es nicht lesen können?

Die beiden Schwäne stießen immer wieder zum Ufer vor, reck-ten in unnachahmlicher Anmut ihre Hälse zu ihr hin, fragend, ob sie ihnen denn heute nichts mitgebracht hätte. Bei dem Wetter waren wenig Spaziergänger un-terwegs - und sie hatten doch auch Hunger. Auch diese Zeitgenossen waren schon bequem geworden. Sie gehörten wohl auch schon zur Wohlstandsgesellschaft und warteten auf die von Menschenhand gereichten Semmeln und Brote.

Da legte sich eine warme Hand auf ihre jetzt offene alte, die ihres Jungen. Er hob sie vorsichtig an wie kostbares Porzellan und bettete sein Gesicht darin, das naß von Tränen war.