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19.10.02 / Gedanken zur Zeit: Bundestag? Reichstag!

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 19. Oktober 2002


Gedanken zur Zeit: Bundestag? Reichstag!
von Hans Heckel

Die Koalition steht, das neue Parlament hat sich in Berlin konstituiert. Und ein mittlerweile alltägliches Begriffs-chaos nimmt seinen weiteren Lauf: Wie bezeichnen wir dieses unser Nationalparlament am gefälligsten? Bundestag oder doch - Reichstag? Zur Zeit ist beides möglich. Kaum hat sich der "Bundestag" eingerichtet, berichten die Medien unverdrossen von "heftigen Kontroversen im Reichstag".

Weniger versierte Ausländer müssen den Eindruck gewinnen, Deutschland verfüge nicht über zwei, sondern gleich drei Parlamentskammern: Den Bundesrat (Oberhaus), den Bundestag (Un- terhaus) und den Reichstag (?). Wer den deutschen Medien vorkenntnisfrei folgt, weiß auch schnell, wo am meisten los ist: In jener ominösen "dritten Kammer" nämlich. Denn wenn es richtig knallt, dann, so melden die Reporter, "weht ein scharfer Wind durch die Flure des Reichstags".

Der "Bundestag" hingegen hat gar keine eigenen Flure mehr, auf denen getuschelt, gezankt und intrigiert werden kann. Er macht bestenfalls über wenig spektakuläre Ausschüsse und Drucksachen von sich reden. Er ist zum theoretischen Konstrukt ohne TV-fähiges Gesicht verschwommen.

Daß sein Name nicht längst als Relikt einer Übergangsepoche verschwunden ist, verdankt der "Bundestag" vermutlich jener deutschen Verkniffenheit und Entschlußschwäche, die schon dem verquasten Hauptstadtbeschluß Pate stand: Statt samt und sonders nach Berlin zu ziehen, würgten die Abgeordneten einen an Umständlichkeit und Ineffizienz kaum zu überbietenden Kompromiß heraus, der die nationalen Ministerien zwischen dem ausgedienten Provisorium Bonn und der deutschen Hauptstadt auseinanderfledderte. Nichts Halbes und nichts Ganzes.

Die dröhnenden Warnungen von 1991, daß in Berlin irgendwelche deutschen Dämonen wohnten, die sich sofort der Regierung bemächtigen würden, sind heute zwar keine Lachspalte mehr wert. Doch um zu verhindern, daß unser Parlament den längst wieder volkstümlich gewordenen Namen "Reichstag" auch offiziell wieder annimmt, dürften die schrägen Argumente von damals alle noch einmal bemüht werden.

Solche, die bereits den Wiedereineinzug der Volksvertreter ins alte Haus verhindern wollten (wie die damalige CDU-Bun- destagspräsidentin Süssmuth), brachten schon in jenen Tagen eilfertig hervor, Bundestag stehe für Demokratie, der "Reichstag" hingegen sei ein Ort für Monarchisches oder gar "... das düsterste Kapitel der deutschen Geschichte".

Geschichte wie (europäische) Gegenwart verweisen solche Folgerungen indes ins Land der Mythen. Die Republik Finnland hat einen Reichstag, und auch das demokratische Rußland hat mit dem Begriff Duma den Namen des alten Parlaments aus der Zarenzeit wiederaufleben lassen.

Selbst die deutsche Geschichte gibt keinerlei Hebel her für vereinfachende Zuordnungen.

Seit dem Mittelalter führte das deutsche Fürstenparlament die Bezeichnung Reichstag. Die Stunde des ersten "Bundestages" schlug 1815 - und eine Stunde der Demokratie war das nicht, ganz im Gegenteil: Der Deutsche Bundestag mit Sitz in Frankfurt am Main war ebenfalls eine Fürstenversammlung und als bewußte Absage an die neuen demokratischen Bewegungen zu verstehen. Im 19. Jahrhundert wurde "Bundestag" gleichbedeutend mit Reaktion und Verfolgung von Demokraten, mit Kleinstaaterei, Despotie und Anma- ßung der Territorialherrscher, die dort das Sagen hatten.

So strebten die 1848er Revolutionäre nichts weniger an als die Ablösung des diktatorischen Bundestags-Regiments durch einen demokratischen Reichstag, zu dem die Nationalversammlung in der Paulskirche die vorbereitende Arbeit leisten sollte.

Es kam anders, der Reichstag wurde, wie es heute heißt, 1867 "von oben" eingeführt. Doch erstmals in der deutschen Geschichte genossen jetzt alle Männer ab dem 25. Lebensjahr freies, gleiches und geheimes Wahlrecht (das geschmähte Dreiklassenwahlrecht galt lediglich für das preußische Abgeordnetenhaus). Zunächst war dieser Reichstag bloß die Volksvertretung des Norddeutschen Bundes, Bundeskanzler war Otto v. Bismarck. Ab 1871 repräsentierte der Reichstag das Volk im gesamten Deutschen Reich, dessen neuer Kanzler der ehemalige Bundeskanzler des Norddeutschen Bundes wurde. Dieser Reichstag hatte bereits das Budgetrecht, saß also auf dem Geld, ohne das auch ein Kaiser machtlos war - gegenüber dem verhaßten Bundestag von Frankfurt ein epochaler Sprung zur Demokratie.

Ab 1918 dann hatten auch Frauen das allgemeine Wahlrecht für das Parlament der jungen Republik, das selbstverständlich wei-terhin Reichstag hieß - wie zudem niemand im fortbestehenden Namen "Deutsches Reich" einen Widerspruch zur republikanischen Staatsform erkennen mochte.

Daran änderte sich selbst auch nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst nichts: Die CDU versammelte sich bei ihrer ersten Vier- zonen-Zusammenkunft ganz selbstverständlich zum "Ersten Reichstreffen". Die FDP plakatierte 1948 nach der Fusion ihrer diversen kleinen liberalen Vorgängerparteien zuversichtlich: "Der Zusammenschluß aller Kräfte im Kampf um das Reich ist erfolgt: Freie demokratische Partei!" Jene bizarren Verkrampfungen, die der Begriff "Reich" hernach auslösen sollte, haben ihren Ursprung also in Fehldeutungen späterer Nachkriegsjahre.

Ins andere Extrem zu verfallen und den Titel "Bundesrepublik Deutschland" als unhistorisch zu verdammen erscheint allerdings kaum weniger spitzfindig. Die Deutschen haben diesen neuen Namen längst verinnerlicht, ja, er ist (je nach Wohnort) zum Synonym eines großartigen Wiederaufstiegs oder eben zur Erinnerung an die Sehnsucht nach einem Leben in Freiheit und Wohlstand geronnen. Die Bun-desrepublik ist heute so selbstverständlich der Staat der Deutschen, wie der Reichstag (wieder) ihr Parlament ist.

Es wird Zeit, daß beide, die Bundesrepublik und ihr Reichstag, sich miteinander auch offiziell versöhnen - dem allgemeinen Sprachgebrauch folgend, wo sie dies ohnehin schon getan haben. Die Umbenennung des Parlaments in Deutscher Reichstag wäre ein Ausdruck von demokratischer Normalität und historischer Kontinuität im besten Sinne. Das Spiegelbild einer Nation, die sich Schritt für Schritt wieder zu sich selbst traut und ihre guten Traditionen neu entdeckt.