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19.10.02 / Der Meineid

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 19. Oktober 2002


Der Meineid
von Horst Mrotzek

Johann Kaminski wohnte weit abseits jeder menschlichen Siedlung am Wald. Heute würde man sagen: sehr romantisch. Aber damals fiel die Lagebeschreibung prosaischer aus. Wenn der Gerichtsvollzieher, der Gendarm oder andere Amts-personen in wichtigen Missionen auf dem Wege zu Johann Kaminski waren, dann sagten die Leute im Dorf abfällig: Ja, der wohnt da draußen in der Bruchbude, die bald über seinem Kopf zusammenfällt und wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen!

Gerade in dieser interessanten Nachbarschaft von Fuchs und Hase fühlte sich Kaminski wohl. Er war arm an irdischen Gütern, dafür um so reicher an Kindersegen. Es kostete viel Anstrengungen und Mühe, Tag für Tag eine große Schüssel voller Kartoffeln und ein Laib Brot auf den Tisch zu bringen, um sechs junge Menschenkinder und eine Frau satt zu bekommen. Ein leckerer Bratenduft war schon lange nicht mehr durchs Haus geströmt.

Seine Gelegenheitsarbeiten in der Ernte, im Forst oder bei der Ausbesserung der Landstraße brachten nicht viel ein. Ich könnte gut auf ein Stück Fleisch oder auf ein Wurstbrot zugunsten meiner Kinder verzichten. Aber: woher nehmen und nicht stehlen? Stehlen nicht, aber vielleicht schießen! Ich glaub', ich muß der Gerechtigkeit etwas nachhelfen, sinnierte Johann Kaminski so vor sich hin, als er eines Tages am Waldesrand friedlich ein Reh grasen sah. Der liebe Gott möge ein Auge zudrücken.

Das alte Haus, das schon vier Generationen Kaminskis beherbergt und Freud und Leid gesehen hatte, barg ein Geheimnis. Der Großvater Karl lag bereits im Sterbebett, als er seine zahlreiche Nachkommenschaft um sich versammelte, um ihr ein Geheimnis zu offenbaren. Seine Stimme war schon so schwach und zittrig, daß die Versammelten den Inhalt seiner Botschaft beim besten Willen nicht zu deuten wußten.

Jahre danach, die Geschichte war längst vergessen, da stieß Johann Kaminski zufällig auf einen Fund. Während er einen dicken Nagel in die Holzwand der Stube schlug, um seiner Frau im Winter das Wäschetrocknen an einer Leine zu ermöglichen, fiel ihm der hohle Klang an dieser Stelle der Wand auf, er vermutete einen Hohlraum, löste das Brett und zu seiner großen Überraschung kam ein Gewehr russischen Fabrikats zum Vorschein, außerdem noch ein paar Schuß Munition. Unschlüssig, was er mit diesem Fund nun anfangen sollte, versenkte er das Gewehr mit den Patronen wieder in dem Hohlraum und setzte das Brett darauf. Von diesem interessanten Fund erzählte er niemandem etwas.

Des Rätsels Lösung reimte sich Johann Kaminski so zusammen: Der Großvater, der als Soldat in der Masurischen Winterschlacht 1915 zum Einsatz gekommen war, hatte vielleicht einen russischen Soldaten gefangen genommen und ihn entwaffnet. Nach dem Krieg hatte er das Gewehr auf sonderbare Weise immer noch in seinem Besitz und nahm es als Souvernir heim. So könnte es gewesen sein ...

Der Gedanke an das Gewehr ließ Johann Kaminski nicht mehr los! Wenn rein zufällig ein Häschen oder vielleicht auch ein Rehchen mir in mein Schußfeld gerät, kann doch die himmlische Strafe nicht so schmerzhaft ausfallen. Die drohende weltliche Strafe kümmerte ihn überhaupt nicht, wenn nur seine Mädchen endlich ein ordentliches Stück Fleisch auf dem Teller hätten.

Hastig löste Kaminski das Brett aus der Wand, griff das Gewehr und die Patronen und verschloß das Versteck wieder. Dann schulterte er das Gewehr und legte darüber seinen Lodenumhang. Seiner Frau, die im Garten beschäftigt war, rief er zu, er schaue noch mal nach den Pilzen im Wald. "Bleib aber nicht so lange fort!" erwiderte sie und dachte: Eigenartig, nach den Pilzen im Wald zu so später Stunde?

Johann Kaminski kannte den Wald wie seine Hosentasche. So strebte er gezielt der Stelle zu, wo sich in den Abendstunden das Wild zum Äsen aufhielt. Er mußte sich beeilen, denn sobald sich das Tageslicht brach, war ein genauer Schuß kaum noch möglich.

Er brauchte nicht lange zu warten, da tauchte auch schon eine Ricke aus dem Haferfeld auf und wechselte in den Klee, wo sie sich das fette Grün schmecken lassen wollte. Kaminski holte ganz vorsichtig das Gewehr unter dem Umhang hervor, entsicherte und legte an. Im selben Augenblick hob das Reh den Kopf und stellte die Lauscher auf. Er hatte das Gefühl, als schaute ihn das Tier an und bat um Gnade. Er zögerte ein wenig, schloß die Augen, tat sie gleich wieder auf, und als das Reh den Kopf senkte, um weiter zu fressen, setzte er sein Gewehr aufs neue an, zielte und zog mit kräftigem Druck den Abzugsbügel durch.

Kaminski war so erschrocken, daß ihm der heftige Rückschlag fast die Waffe aus den Händen gerissen hätte. Die Detonation zerriß die Abendstille und der Schall setzte sich kilometerweit fest. Hoffentlich hat der Knall nicht an den Fensterscheiben des Forstamtes gerüttelt und den Forstmeister in seinem erholsamen Feierabend gestört. Der würde sonst seine Kollegen telefonisch anweisen, in ihren Revieren nach dem Rechten zu sehen.

Kaminski will sich gerade zum getroffenen Tier begeben, da schreckt ihn ein bellender Hund auf. Das wird doch wohl nicht der Förster sein? Schleunigst greift er das Reh, sucht eine Mulde und versteckt es dort. Dann hetzt er durch den Wald, als sei die wilde Jagd hinter ihm her. Er macht einen großen Bogen, um nicht dem Förster in die Arme zu laufen.

Zuhause außer Atem angekommen, wird er von seiner Frau empfangen: "Was ist denn mit dir los? Du siehst ja aus, als wäre der Teufel hinter dir her. Ich denk, du warst Pilze suchen, so siehst du aber nicht aus? Wo hast du denn deinen Umhang gelassen?"

"Ach ja, meinen Umhang!" sagt er verlegen. "Ja, den habe ich doch glatt vergessen, liegengelassen." Sonderbar, so kannte sie doch ihren Mann überhaupt nicht. Da muß doch etwas Außergewöhnliches geschehen sein, denkt Eva Kaminski.

Am nächsten Tag steht überraschenderweise der Revierförster vor der Tür. "Herr Kaminski, gehört Ihnen der Umhang?" fragt er und hält ihm das graue Tuch hin. Als er die Antwort verweigert, sagt der Förster in strengem dienstlichen Ton: "Sie müssen mir keine Antwort geben, das werden Sie vor dem Richter tun!" Dann verläßt er mit knappem Gruß das Haus und läßt ein schweigendes, unglückliches Paar zurück.

Liebe Leserin, lieber Leser, ersparen Sie mir die Aufzählung von Details eines Strafverfahrens, denn damit würde ich Sie ja doch nur langweilen, zumal sich der dramatische Höhepunkt während der Hauptverhandlung ereignete. So kam der Tag, an dem Johann Kaminski vor den Schranken des Gerichts in der Kreisstadt Neidenburg stand: die stattliche Gestalt zusammengefallen, die Schultern hängend, den Blick zu Boden gerichtet. Kurz: Ein Häufchen Elend! Beeindruckt von dem Bild des Erbarmens hätte jeder hier im Saal für den Angeklagten um Freispruch gebeten. Der Richter aber durfte sich nicht nur von Äußerlichkeiten leiten lassen, das ließ sein Amt nicht zu. Seine langjährige Berufserfahrung ließ keine Zweifel: Johann Kaminski war schuldig!

Dieser aber bestritt seine Schuld, so sollte es zum Schwur kommen. Eisige Stille herrschte im Saal. Laut und deutlich war der Richter zu vernehmen: "Angeklagter, erheben Sie die rechte Hand zum Schwur und sprechen mir nach: Ich schwöre, so wahr mir Gott helfe!" Kaminski hob seine Hand und sprach mit unsicherer Stimme: "Ich schwöre ..." Weiter kam er nicht, denn in diesem Augenblick peitschte ein Schuß durch den Raum. Der Angeklagte ließ den Arm fallen und stand kreidebleich da. Alle Anwesenden schauten erschrocken zu Wachtmeister Meier, der von seinem Stuhl aufgesprungen war, um sein zu Boden gestürztes Gewehr aufzuheben, nachdem sich ein Schuß daraus gelöst hatte.

Als sich die Spannung gelegt hatte, rief der Richter erbost: "Wachtmeister Meier, wie ist so etwas möglich? Sie haben doch gedient!" - "Ich habe den Karabiner vorschriftsmäßig gesichert, Herr Richter", antwortete der Wachtmeister.

Nachdem wieder Ruhe in den Saal eingekehrt war, führte der Richter die Verhandlung fort: "Angeklagter, sind Sie bereit, die Eidesformel noch einmal zu sprechen?" Es entsteht eine Pause: "Angeklagter, haben Sie mich nicht verstanden?" - Ja, Herr Richter, ich habe Sie verstanden. Aber ich muß gestehen, ich habe mich schuldig gemacht."

Tumult entstand im Saal. Enttäuscht über die überraschende Wende der Verhandlung machten sich manche der Anwesenden Luft, indem sie Johann Kaminski übel beschimpften. Der Richter sorgte für Ruhe, und das Gericht zog sich zur Beratung und Beschlußfassung zurück. Die Höhe des Strafmaßes ist für die Geschichte unerheblich, wichtig ist, daß Johann Kaminski durch den sonderbaren Vorfall von einem Meineid verschont blieb.

Geläutert kehrte der Gestrauchelte nach Absitzen seiner Strafe in den Schoß seiner Familie zurück. Er bekam Arbeit bei der Sägemühle, zeichnete sich durch Fleiß und Zuverlässigkeit aus und stieg zum Platzmeister auf. Nun gab es im Hause Kaminski regelmäßig und satt zu essen. Und die sechs Mädchen brauchten nicht mehr neidisch auf die Pausenbrote ihrer Mitschüler zu schielen.

Für die Kaminskis begann eine neue, glückliche Zeit. Er renovierte und verschönte sein altes Haus. Und nun hieß es nicht mehr, der Kaminski wohnt da draußen in der alten Bruchbude, sondern: er wohnt in dem schmucken Haus am Wald!

Anmerkung: In einer alten heimatkundlichen Überlieferung fand ich unter der Überschrift "Abergläubisches in Masuren" folgende Aussage: "Leistet jemand einen Meineid in einem Zimmer, in welchem sich ein Gewehr befindet, so geht die Kugel los und trifft den Meineidigen." - Bemerkenswert die Duplizität der Handlungen! Nur, daß meine Hauptperson glücklicherweise vom Meineid verschont und am Leben blieb.