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19.10.02 / Die zweite Odyssee der verschleppten Deutschen

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 19. Oktober 2002


Zwangsarbeiter: Der verbotene Schmerz
Die zweite Odyssee der verschleppten Deutschen
von Wilhelm Paul

Es gibt Verhaltensweisen, die anscheinend nur in Deutsch- land denkbar sind, weil das kollektive Empfinden der politisch Mächtigen gegenüber bestimmten Bevölkerungsgruppen selten tiefer als eine Spielzeugkiste reicht. Das bisher verdrängte Leid der deutschen Zwangsarbeiter in Rußland, Polen oder der Tschechoslowakei geriet über die Jahrzehnte in "Vergessenheit". Biologisch hoffte man das Problem auszusitzen. Dies verwundert um so mehr, als die angebliche politische Elite in der Bundesrepublik Deutschland gegenüber den Wünschen der ausländischen Zwangsarbeiter normalerweise mit dem prallen Kelch der Barmherzigkeit aufwartet.

Wer wie der Verfasser dieser Zeilen nach dem Einmarsch der Roten Armee die langen Züge der Verschleppten unter starker Bewachung zum Bahnhof seiner Heimatstadt ziehen sah, vergißt die Bilder nicht. Es waren Frauen, Männer, Jugendliche, die ohne jede Rechtsgrundlage und persönliches Verschulden meist jahrelangem "Frondienst" zugeführt wurden. Auch wenn man sich in diesem Land schon durch das Erinnern verdächtigt macht, darf man als Zeitzeuge nicht schweigen.

Etwa 500.000 betroffene Personen leben noch, für die eine Entschädigung seitens der Täter bisher aussteht. Von der Ostseeküste bis zum Balkan wurden Menschen von der Straße abgegriffen und in überfüllte Viehwaggons ohne ausreichende Ernährung nach Osten verfrachtet. Wer die oft unmenschlichen Arbeitsbedingungen, Unterernährung, Krankheiten überlebte, kam häufig mit psychischen und physischen Schäden erst nach drei bis fünf Jahren frei. Während deutsche Gerichte traumatisierte Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien von der Abschiebung ausnehmen, bei den Überlebenden des Holocaust und Ve- teranen des Vietnam-Krieges ausgeprägte posttraumatische Belastungsstörungen als Krankheit anerkannt werden, zeigen Politiker und selbst das schillernde Heer der Psychologen eine auffällige Scheu, derartige Belastungen auch bei den Deutschen anzuerkennen, die willkürlich im Osten zu Opfern der Sieger wurden.

Während die deutsche Seite von ihr begangenes Unrecht wiederholt bedauert und dafür auch seit Kriegsende mit ungezählten Milliarden Wiedergutmachung versucht, steht die Täterrolle der Russen, Polen oder Tschechen nicht zur Debatte.

Erinnert sei in diesem Zusammenhang an die bezeichnende Rolle des polnischen Stiftungs- vorsitzenden Bartosz Jalowiecki bei der Verteilung der letztmaligen Zahlung von 1,8 Milliarden Mark an polnische Zwangsarbeiter. Anders als die anderen Empfänger in Mittel- und Osteuropa bestanden die Polen gemäß Partnerschaftsvertrag § 7, Absatz 5 darauf, die Summe in Zloty zu erhalten, obwohl die Auszahlung sonst in Mark vorgesehen war. Jalowiecki hoffte mit diesem Trick, kurzfristig zusätzliche Wechselkursgewinne von mehr als fünf Millionen Mark zu tätigen. Als statt des Zugewinns Verluste einzutreten drohten und der polnische Präsident Kwasniewski sich einschaltete, beeilte man sich in Berlin mit der Zusage, notfalls auch zusätzlich die Spekulationsverluste zu begleichen. Umgekehrte Bemühungen einer deutschen Regierung zugunsten der von Polen mißbrauchten deutschen Zwangsarbeiter sind bisher nicht sichtbar geworden. Auf die selbstverständliche Schutz- und Obhutspflicht hat man großzügig verzichtet. Mit feiger Haltungslosigkeit glaubt man immer neue Wünsche zu entkräften.

Daß sich vom politischen Establishment und den Medien niemand so recht für die Anliegen der deutschen Zwangsarbeiter interessierte, wirft ein bezeichnendes Licht auf die Qualität einer Gesellschaft. Schon der Wunsch nach einer Erklärung macht den Fragesteller verdächtig. Wortführende Geister rechtfertigen Vertreibung und Zwangsarbeit von Deutschen allein mit dem Hinweis auf Auschwitz, das bezeichnenderweise später als Zwangsarbeitslager für Deutsche seine traurige Funktion fortführte. Die Ernüchterung nach dem verheerenden Krieg und das Ausmaß des anderen angetanen Leids waren vielfach so groß, daß manch einer Hemmungen hatte, das eigene Leid zu beklagen. Wer es dennoch wie die Vertriebenen tat, geriet schnell in den Verdacht, in deutschem Namen begangene Untaten gegen fremde aufrechnen zu wollen. Appelle der Verlierer des Krieges durften schon deshalb kein Gehör finden. Das eigene Leid zählte nicht. Den Finger in offene Wunden zu legen war unschicklich.

Es ist gängige Praxis bei uns, Zwangsarbeit mal als unmenschlich, demütigend zu bewerten, mal als "Kriegsfolgenschicksal" abzutun. Um dennoch gut zu funktionieren, wurden persönliche Erinnerungen abgetan, vom Leid der anderen überlagert. Das Verstummen der Erlebnisgeneration sowie nachfolgender Jahrgänge entsprang der in Schulen, Kirchen, politischen Zirkeln gebetsmühlenartig vorgetragenen These, daß der keinen Schmerz reklamieren darf, der noch über Generationen kollektive Schuld abzutragen hat. Solange Gewissenspfleger, Musterdeutsche - mal aus fehlendem Gewissen, mal infolge familiärer Gedächtnislücken - die eigenen Opfer überhören, Vertreibung, Zwangsarbeit als berechtigte Maß- nahmen von Siegern entschuldigen, darf das Thema nicht zur Ruhe kommen.

Wenn der deutsche Bundeskanzler nicht einmal bereit ist, eine Petition der deutschen Zwangsarbeiter entgegenzunehmen, ihre Repräsentanten schon an der Pforte wie dumme Jungen abgefertigt werden, die polnische Regierung hingegen selbst anläßlich eines Besuches des russischen Präsidenten Putin im Januar 2002 wie selbstverständlich eine Zusage zugunsten der polnischen Zwangsarbeiter erwirkte, zeigt das die fundamentalen Unterschiede im Hinblick auf nationale Selbstachtung, Verantwortlichkeit, Qua- lität und Würde.

Auch wenn von der ergrauten Juso-Riege und ihren bunten Spielgefährten ein Abschied aus der kollektiven Amnesie nicht zu erwarten ist, sollten wir mit dem lateinischen Spruch "Et si omnes ego non" ("Auch wenn alle - ich nicht!") Position in der Frage beziehen und uns nicht als willfährige Mitläufer einer amorphen Masse verstehen. Geradezu naiv glaubt Michael Ludwig bei dem wachen historischen Gedächtnis der Polen, "daß die Lager, in Deutsche nach dem Zweiten Weltkrieg gesperrt wurden und Zwangsarbeit verrichten mußten, bei den Polen noch nicht angekommen sind" (FAZ 18.6.2001).

Diskriminierung durch Verschweigen, Überhören, Untätigkeit der eigenen Regierung wirkt u. U. schlimmer, verletzender als die Rechtlosigkeit und Verlorenheit während der Zwangsarbeit. Ob unsere intellektuelle Integrität und moralische Gangsicherheit gegenüber den Siegern des Zweiten Weltkrieges ausreicht, muß sich erst noch erweisen.

 

Wer als Russe durch die Hölle der Lager ging, darf auf deutsche Entschädigung hoffen. Von deutschen Zwangsarbeitern nimmt Kanzler Schröder nicht einmal eine Petition entgegen: Russische Deportierte vor dem Abtransport Foto: Ullstein