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26.10.02 / "Ich bin frei, weil ich lese" / Das Gastland Litauen und seine Beziehung zum gedruckten Wort

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 26. Oktober 2002


"Ich bin frei, weil ich lese"
Das Gastland Litauen und seine Beziehung zum gedruckten Wort

Im Mittelpunkt der Messe präsentierte sich Litauen als Gastland. Die Halle war schlicht, aber eindrucksvoll hergerichtet. Das vielfältige Veranstaltungsprogramm der Litauer lockte Mengen an Besuchern an. Viele von letzteren haben hier erst festgestellt, daß Litauen eben nicht irgendwo am Ural liegt. "Das ist eine traurige Erkenntnis nach rund 700 Jahren Nachbarschaft", meint Jonas Kilius, Germanist an der Universität Wilna. Die Zeit ist vergessen, die Jahrhunderte sind aus dem historischen Gedächtnis gestrichen. In der Diskussion "Abschied von Preußisch-Litauen?" wurde diese Zeit wieder ein bißchen lebendig, als Ulla Lachauer und Ruth Kibelka gemeinsam mit Prof. Karl Schlögel über ihre Erfahrungen mit Litauern und Deutschen, die dort leben, berichteten. Die Diskutanten berichteten aus ihrem eigenen Erfahrungsschatz: So erzählte die Autorin des Buches "Die Paradiesstraße", Ulla Lachauer, daß sie vor 20 Jahren auch noch nicht mehr über das Memelland wußte, als daß es Tilsiter Käse gibt und daß von "Memel" nur Revanchisten sprechen würden. Ausgangspunkt für ihr Interesse waren dann die Erzählungen der vertriebenen Ostpreußen. Ob es nun wirklich ein Abschied ist oder sich eine neue Bekanntschaft entwickelt, wird die Zukunft zeigen. Übereinstimmung herrscht aber in der Erkenntnis, daß dieses Land an der Memel, "dem europäischen Amazonas", wie Prof. Schlögel so treffend formulierte, etwas ganz Besonderes hat, daß hier eine historische Region auf dem Weg ist, ein neues Gesicht zu bekommen, und im Rahmen der EU-Osterweiterung ein wichtiges Verbindungsglied darstellen könnte.

Im Gesamtveranstaltungsplan der Litauer konnte man schnell den Eindruck gewinnen, daß die deutsch-baltische Geschichte und alles, was mit dem Memelland in Verbindung steht, eher im Hintergrund stand, die Nachbarschaft zu Deutschland allerdings dann auf die Tagesordnung kommt, wenn es darum geht zu beweisen, wie westlich eigentlich Litauen liegt und daß Litauen eben zu Europa gehört.

Mit Litauen war zum ersten Mal ein baltischer Staat als Gastland zur Buchmesse in Frankfurt geladen. Eigentlich ist Litauen nur eine Art Ersatzkandidat gewesen. Vor gut einem Jahr war die Türkei ausgefallen und Litauen eingesprungen. Die Entscheidung für Litauen war auf beiden Seiten gewagt wie mutig. Litauen ist ein sehr kleines Land im Gegensatz zu den üblichen "klassischen Ländern". Es kann nur eine schmale finanzielle Grundlage bieten. Litauen stand ein Budget von rund 1,7 Millionen Euro zur Verfügung - Griechenland als Gastland im vergangenen Jahr verfügte über 6,1 Millionen. Hinzu kamen hohe Erwartungen sowie die Tatsache, daß litauische Literatur im Ausland kaum bekannt ist.

Eine breite weltliche litauische Dichtung entstand erst zum Ende des 19. Jahrhunderts. Dies ging einher mit der Wiedergeburt des litauischen Nationalismus. Erst Anfang der Neunziger entstand in Litauen eine von Selbstzensur und Zensur freie und blühende vereinte Literatur, die eher aus Lyrik und Kurzgeschichten denn aus Romanen besteht. Kennzeichnend für den Hunger der Litauer nach gedanklichen Anregungen sind die unzähligen Übersetzungen aus dem Englischen und Deutschen ins Litauische. In umgekehrter Richtung ist das allerdings viel weniger der Fall. Litauen als Land bietet heute ein Bild von großer kultureller Dichte, die nicht häufig zu finden ist bei einer derart kleinen Bevölkerung von 3,8 Millionen - weniger als in Rheinland-Pfalz. Das zeigt sich besonders im Verhältnis zum Buch. Jeder 6.000. Litauer ist Besitzer eines Verlages.

Wundern sollte die Wahl Litauens allerdings nicht. Sprache, Druck- und Verlagswesen können jeweils auf eine alte und bedeutende Tradition zurück- blicken. Litauisch ist die älteste lebende indogermanische Sprache. Schon 80 Jahre nach der Erfindung des Buchdrucks in Europa gab es in Wilna eine Druckerei, und wiederum 60 Jahre später, 1579, wurde die Universität gegründet. In Wilna trafen sich die Traditionen, Kulturen und Religionen: Zum Litauischen kamen Einflüsse aus Rußland, Polen und Deutschland. Gut zehn Jahre nach der wiedererlangten Unabhängigkeit und Befreiung von sowjetischer Unterdrückung hat Litauen einen Nachholbedarf, den eigenen Weg zu finden, die litauische Kultur und Nationalität. Für die Litauer - im Prinzip für alle Menschen in den Gebieten der ehemaligen Sowjetunion - hat das Lesen (noch?) einen besonderen Stellenwert. Es ist ein Zeichen für Freiheit und für uneingeschränkte Selbständigkeit. Es gibt Menschen, die halten das Buch für den einzigen Sieg der Litauer in den Jahren vor der Wiedererlangung der Unabhängigkeit, als Bücher und Lesen als eine gewisse Form des inneren Widerstands begriffen wurden. "Ich bin frei, weil ich lese, und niemand kann meine literarischen Erlebnisse angreifen", war der Eindruck der gebildeten Leserschaft. Im Augenblick macht es den Anschein, als würde dieses Bedürfnis auch in Zeiten der Freiheit bestehen bleiben. Ob dies lange anhält, weiß man nicht. Es besteht die Befürchtung, daß die junge Generation in Richtung Computerspiele und Internet von dieser Einstellung abwandert. Die alte Tradition, neue Bücher nicht nur in engen Literaturzirkeln zu besprechen, sondern eben auch in täglichen Gesprächen, bleibt aber bestehen. Laut litauischen Verlegern, schrecken die finanzkräftigen Käufer nicht vor dem Kauf von "dicken" Büchern zurück, wo- rüber sich Kollegen in den anderen Ländern sehr wundern. Im Verhältnis zu sowjetischen Zeiten ist das Netz von Bibliotheken ausgedünnt worden. Mit rund 4.000 Bibliotheken ist es aber doch vergleichsweise engmaschig. Mit der Verteuerung der Bücher, Zeitschriften und Zeitungen steigt der Wert der Bibliothek als Kulturzentrum, besonders in kleinen Dörfern und Städten. Die Finanznot der Bibliotheken wurde Ende der neunziger Jahre zum Anlaß für die ehrenamtliche Aktion "Laßt uns gelesene Bücher austauschen" genommen. Ziel ist es, Schulbibliotheken, Kinderheime, Krankenhäuser und ähnliches mit geschenkten Büchern zu unterstützen. Ein im Prinzip typisch litauischer Einfall, der den Ideenreichtum - ohne den man wohl in sowjetischer Zeit nicht überleben konnte - dieses Volkes widerspiegelt. N. Kaiser

Sonnenaufgang bei Schloß Trakai: Litauen, das aufgrund seiner eindrucksvollen Natur zum begehrten Reiseland geworden ist, offenbarte auf der Frankfurter Buchmesse, daß es auch auf literarischem Gebiet einiges vorzuzeigen hat Foto: f1 online