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26.10.02 / Polen: Rentner-Schwemme / Der schöne EU-Schein und die Wirklichkeit

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 26. Oktober 2002


Polen: Rentner-Schwemme / Der schöne EU-Schein und die Wirklichkeit
von Martin Schmidt

Unter den zehn Ländern, die die EU-Kommission am 9. Oktober als Kandidaten für die erste Beitrittsrunde zur Europäischen Union empfohlen hat, befindet sich erwartungsgemäß auch die Republik Polen.

Vorausgesetzt das irische Volk hat mit seinem Votum vom 19. Oktober keinen dicken Strich durch die Erweiterungspläne gemacht, wird Polen am 24./25. Oktober ebenfalls mit von der Partie sein, wenn es auf dem Brüsseler EU-Gipfel zum Schwur kommt, mit welchen Bewerbern man bis zum Jahresende die Verhandlungen abschließen will.

Denn auch die tausendste Beteuerung, man werde die Einhaltung der Beitrittskriterien streng überwachen, ändert nichts daran, daß Polen als größtes ostmitteleuropäisches Land bestimmt nicht außen vor bleibt.

Diese Entscheidung ist längst gefallen. Sie hat ja auch eine gewisse Logik, denn ohne Polen wäre zugleich die Aufnahme der baltischen Staaten undenkbar. Dann bliebe bis auf weiteres nur eine kleine Lösung mit den einstigen k. u. k.-Gebieten im Südosten (Tschechien, Slowakei, Ungarn und Slowenien) sowie Malta und Zypern.

Jetzt geht es in erster Linie darum, den Schein zu wahren und der Öffentlichkeit in den EU-Mitgliedsstaaten sowie den Menschen zwischen Oder und Bug vorzugaukeln, Polen habe sozusagen in letzter Minute doch noch die volle EU-Reife erlangt.

Die außerordentlichen Fortschritte, die das Land seit der Wende gemacht hat und die es westliche Besucher zum Teil kaum wiedererkennen lassen, sollen keineswegs geleugnet werden. Dazu gehören beispielsweise die Privatisierung der Wirtschaft, die Hebung der Arbeitsmoral, die Instandsetzung eines erheblichen Teils der im Sozialismus vergammelten historischen Bausubstanz sowie die anhaltende Stärke des Zloty.

Ebenso gilt es das grundsätzliche Anrecht Polens auf eine EU-Mitgliedschaft anzuerkennen. Nicht zuletzt liegt diese gerade im deutschen Interesse. Trotzdem sollte mit offenen Karten gespielt werden, damit es in einigen Jahren nach erfolgter EU-Osterweiterung nicht heißt: "Das haben wir alles nicht gewußt!" Denn die Probleme mit der in weiten Teilen zum Untergang verurteilten polnischen Landwirtschaft, mit Billiglohnkonkurrenz und Wanderungsströmen aus dem Osten oder der kostenträchtigen Förderung neuer strukturschwacher Regionen werden kommen.

In diesem Zusammenhang kann man absehen, daß die Verteilungskämpfe um das immer knappere Geld in den Brüsseler Kassen die Union vor eine Zerreißprobe stellen dürften.

Manche Schwachstellen des heutigen Polens finden Erwähnung in der am 9. Oktober von der EU-Kommission vorgestellten Bestandsaufnahme der Kandidatenländer: der wenig vertrauenswürdige Umgang mit EU-Fördermitteln, die Schwerfälligkeit der polnischen Gerichte, die weitverbreitete Korruption und natürlich die Landwirtschaft, die unter anderem im Veterinärwesen noch keineswegs auf eine EU-Mitgliedschaft vorbereitet ist.

Besonders kritisch wird die polnische Bürokratie hervorgehoben. In dem Brüsseler Bericht heißt es, die seit einem Jahr amtierende Linksregierung Miller habe fast alle Spitzenbeamten ausgewechselt und durch eigene Parteigänger ersetzt. Dadurch sei eine Menge Fachwissen verschwendet worden.

Einige der brennendsten Probleme, die die polnische Volkswirtschaft und den Staatshaushalt belasten, kommen allerdings nicht zur Sprache. Allen voran die hohe Zahl von Firmenpleiten, Massenarbeitslosigkeit, Schwarzarbeit und die Rentnerschwemme.

Von der gegenwärtigen Pleitenwelle sind die verschiedensten Bereiche der Wirtschaft betroffen. Am schwersten dürfte sie das Baugewerbe in Mitleidenschaft ziehen, wo einer Untersuchung der Firma ASM zufolge bis zum Jahr 2004 über 100 000 Firmen um ihre Existenz bangen müssen. Befragungen vom August haben ergeben, daß jeder dritte angesprochene Bauunternehmer mit einer Insolvenz seiner Firma im nächsten Jahr rechnet, während sogar 80 Prozent davon ausgehen, bis 2004 pleite zu sein. Bereits im letzten Jahr war laut ASM allein die Zahl der Subunternehmer im Baugewerbe um 10 200 zurückgegangen.

Ähnlich dramatisch ist die Zahl von 3,1 Millionen registrierter Arbeitsloser (tatsächlich dürften es über fünf Millionen sein) und die vom polnischen Hauptamt für Statistik für 2001 geschätzten 895 000 Schwarzarbeiter. Letztere erwirtschafteten ungefähr 108 Milliarden Zloty (ca. 27 Milliarden Euro), das sind stattliche 15 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Zugleich wurden dem Staatshaushalt etliche Milliarden Zloty an Steuern entzogen.

Nicht eingerechnet sind dabei die ausländischen Schwarzarbeiter, die nach Angaben der Gazeta Prawana vom 2. Oktober auf rund eine Million beziffert wird - vor allem Ukrainer und Russen.

Noch höher als die Zahl der Arbeitslosen ist in Polen die der Rentner: 3,3 Millionen. Für vier Personen, die im Pensionsalter sind oder keine Arbeit haben, müssen derzeit zehn berufstätige Polen aufkommen. In einem OECD-Bericht liest man: "Es gibt keinen anderen Staat, in dem die Auszahlungen von Unterstützungen 4,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausmachen."

Überdies wurden die Renten im letzten Jahrzehnt immer weiter angehoben; heute belaufen sie sich auf durchschnittlich 850 Zloty (etwa 212 Euro). Damit liegt die Altersversorgung im Schnitt über dem Lohn eines knappen Drittels aller Arbeitnehmer.

Von den 800 000 Renten wegen Erwerbsunfähigkeit wurden viele durch Schmiergeldzahlungen an Ärzte erschwindelt, behaupt die angesehene Zeitschrift Wprost. Sie verweist darauf, daß zu Beginn der 1990er Jahre neun Prozent der Erwachsenen in Polen eine Rente bezogen hätten, während es zum Ende des Jahrzehnts bereits 15 Prozent gewesen seien.

Unverblümte Kritik an der Rentnerschwemme kommt auch von Bogdan Wyznikiewicz, Vizedirektor des Instituts zur Untersuchung der Marktwirtschaft: "Bei uns gibt es fast 30 Prozent mehr Rentner als in Tschechien, in der Slowakei oder in Ungarn, wo auch jede dritte Rente erschwindelt wird."

Viele Menschen aus den aufgelösten Staatsbetrieben wurden gleich in die Rente geschickt. In jedem der rund tausend Betriebe, die zwischen 1995 und 2001 aufhören mußten, stufte man im Schnitt sage und schreibe 34 Prozent der Belegschaft als arbeitsunfähig ein und gestand ihnen das Anrecht auf eine staatliche Altersversorgung zu. Bei den polnischen Rentnern handelt es sich zu 45 Prozent um Personen, die sich im Vorruhestand befinden.

All dies sind schwerwiegende Hypotheken für die Zukunft unseres östlichen Nachbarn. Spätestens nach einem EU-Beitritt werden sie aber nicht nur in den Haushalt der Warschauer Regierungen riesige Löcher reißen, sondern indirekt auch die Budgetpläne in Brüssel beeinträchtigen. Für die anfallenden Mehrkosten kommt in der Hauptsache wohl wieder der deutsche Steuerzahler auf.

Baustelle im schlesischen Lauban: Die Bauwirtschaft zwischen Oder und Bug leidet unter einer Welle von Firmenpleiten

Foto: Martin Schmidt