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02.11.02 / "Verständnis für die Verzweiflung der Menschen ..." / Otto von Habsburg zur Tschetschenienfrage, zur Zukunft Königsbergs und über preußische Tugenden

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 02. November 2002


"Verständnis für die Verzweiflung der Menschen ..."
Otto von Habsburg zur Tschetschenienfrage, zur Zukunft Königsbergs und über preußische Tugenden

Kaiserliche Hoheit, zunächst eine persönliche Frage: Sie feiern am 20. November Ihren 90. Geburtstag. Dennoch sind Sie weiterhin gesellschaftspolitisch sehr aktiv. Was ist Ihr Geheimrezept für diese Schaffenskraft?

Habsburg: Ich glaube, daß meine Kraft darin besteht, daß ich immer meine Ziele jenseits meiner Reichweite gesetzt habe. Ich war immer der Ansicht, daß meine Hauptaufgabe die Befreiung der Völker Europas durch ein einiges Europa sein sollte, und dem habe ich auch die ganze Zeit gedient. Solange das noch vor mir liegt - und es ist ja wohl schon sehr weit gegangen, aber leider noch nicht voll entschieden -, werde ich weiter Ideale vor mir haben.

Die Geiselnahme in Moskau hat die Tschetschenien-Problematik wieder ins Zentrum der medialen Öffentlichkeit gerückt. Sie haben bekanntlich enge, freundschaftliche Beziehungen zum tschetschenischen Volk. So standen Sie im persönlichen Kontakt zum ehemaligen, von Russen getöteten tschetschenischen Präsidenten Dudajew. Wie beurteilen Sie die derzeitige politische Lage zwischen Russen und Tschetschenen?

Habsburg: Die russische Behandlung der Tschetschenen ist weiter einer der größten internationalen Skandale. Leider wird diese durch die internationale Propaganda dadurch unterstützt, daß man wohl immer, wenn die Tsche- tschenen etwas tun, das als Verbrechen bezeichnet und die Tschetschenen als Terroristen. Wenn aber die Russen Massenmorde organisieren, wird davon nicht gesprochen. Daß diese ganze Politik sehr stark durch die Erdölinteressen bestimmt ist, ist leider eine betrübliche Tatsache unserer gegenwärtigen Situation.

Seit 1864, nach dem Kaukasuskrieg, steht Tschetschenien unter russischer Herrschaft. 1944 deportierte Stalin Tschetschenen wegen ihrer Kollaboration mit den Deutschen nach Sibirien und andere Teile der Sowjetunion. Wie stark ist die Russifizierung im tschetschenischen Volk fortgeschritten?

Habsburg: Die Tschetschenen sind ein ungemein tapferes und edles Volk. Sie wehren sich weiter. Schon in der zaristischen Zeit wurden sie einmal bis auf zehn Prozent ausgerottet. Jetzt geschieht das wieder, noch dazu mit der schweigenden Zustimmung der demokratischen Mächte. Es ist das umso heuchlerischer, als die westlichen sogenannten Staatsmänner die Tschetschenen immer als Terroristen bezeichnen. Sie sind Freiheitskämpfer.

1996 hatten die Tschetschenen die Möglichkeit einer Autonomie, die vom ehemaligen russischen General Lebed ausgehandelt worden war. Dann aber drangen islamistische Kämpfer aus Kasachstan und anderen Teilen der islamischen Welt bis nach Grosny vor, der Hauptstadt Tschetscheniens. Sind die Tschetschenen nun Teil einer islamistischen Weltrevolution geworden?

Habsburg: Es gibt keine islamistische Weltrevolution. Es gibt die meisten islamischen Völker, die die Taten der Terroristen bedauern und tatsächlich sehr ruhig sind. Aber man spricht von ihnen nicht. Die Tschetschenen gehören dazu. Für sie ist es ein Freiheitskampf und ein jetzt nur mehr verzweifelter Kampf zum Überleben. Es ist absolut undenkbar, daß man unter dem Vorwand, die Menschenrechte zu verteidigen, in Wirklichkeit die Ausrottung ganzer Bevölkerungen, also den brutalsten Staatsterrorismus, durchführt.

1999 startete Putin eine Offensive gegen die Tschetschenen, und in diesem Frühjahr kam es zu einer Anschlagserie in Moskau, bei der es mehr als 200 Tote gab. Tschetschenen werden als Drahtzieher dieser Anschläge vermutet. Muß man in Rußland mit vermehrtem Terror von Tschetschenen rechnen?

Habsburg: Bezüglich der Anschläge in Moskau darf man nicht vergessen, daß Putin uns schon am Anfang versprochen hat, Beweise zu bringen. Er hat diese niemals zustande gebracht. Ich glaube, man kann da nur sagen, die Beweise des Herrn Putin sind ungefähr so viel wert wie die Beweise Hitlers bezüglich des Reichstagsbrandes.

Sind die Geiselnehmer aus Ihrer Sicht Freiheitskämpfer oder Terroristen?

Habsburg: So sehr ich die Geiselnahme bedauere, denn es ist nicht richtig, so gegen Zivilisten vorzugehen, so sehr muß man Verständnis für die Verzweiflung der Menschen haben.

Wie schätzen Sie das Hegemonialstreben Rußlands ein? Geht es um den Kampf gegen den Terrorismus oder um die Kontrolle über das Öl am Kaukasus?

Habsburg: Es besteht für mich kein Zweifel, daß es sich hier um russische Erdölinteressen handelt. Das Gebiet im Kaukasus gehört nicht legitim zu Rußland. Es hat das Recht auf Selbstbestimmung, und wer das verleugnet, verleugnet die grundlegenden Menschenrechte.

Welche Rolle spielen die USA in diesem Konflikt? Konkurrieren hier Interessen um Bodenschätze?

Habsburg: Ich glaube, daß wir als Europäer uns mehr damit befassen sollten, was gewisse europäische Staaten in diesem Zusammenhang tun, als das Gewissen der Vereinigten Staaten zu erforschen. Wir dürfen nicht vergessen, daß eine Anzahl von europäischen Staaten, als seinerzeit der Überfall auf Tschetschenien von Putin organisiert wurde, diesem durch ihre Nachrichtendienste entscheidende Hilfe geleistet haben. Das haben die Amerikaner nicht getan.

Sie waren lange Zeit Europaabgeordneter. Was kann die EU in bezug auf den Krieg in Tschetschenien tun? Gibt es da Vermittlungsspielraum?

Habsburg: Wir können jederzeit die Wahrheit sagen. Wir werden gehört, wir könnten wesentlich energischer auch gegen jene Regierungen auftreten, die sich hier zu den Mitarbeitern des Staatsterrorismus machen.

Deutschland und Rußland verbindet das Schicksal des nördlichen Ostpreußen. Welche Entwicklung sehen Sie für das Königsberger Gebiet? Ist eine Autonomie, gar eine Loslösung von Rußland denkbar?

Habsburg: Für mich besteht kein Zweifel, daß viele der Einwohner von Königsberg, auch Russen, sich von Rußland lösen wollen, weil sie nur dort ihre Zukunft sehen. Ich habe das immer wieder von diesen Menschen gehört, da wir mehrfach Delegationen aus Königsberg bei uns im Europa-Parlament hatten. Allerdings hat es im Parlament drei Schulen gegeben. Es waren diejenigen, die meine Freunde waren - sie haben von Königsberg gesprochen; es gab diejenigen auf der Linken, die nur von Kaliningrad gesprochen haben; zwischen uns gab es eine Art Wolke, die über dem Raum geschwebt ist und in der man, um ja nur niemanden zu beleidigen, von Königsberg/Kaliningrad sprach.

Zum Schluß eine Frage in eigener Sache: Das "Ostpreußenblatt" trägt seit einem Jahr den Zusatz-Titel "Preußische Allgemeine Zeitung", was natürlich auch eine inhaltliche, programmatische Orientierung, etwa im Sinne der preußischen Tugenden, bedeutet. Wie kommentieren Sie dies als Sohn des letzten regierenden Habsburgers?

Habsburg: Ich bin sehr froh, daß man sich wieder der preußischen Tugenden erinnert. Es hat natürlich Zusammenstöße zwischen Österreich und Preußen gegeben. Wir haben aber heute ganz andere Probleme vor uns, und in diesen Problemen ist Preußen und seine Tradition auch für uns alle, ob wir in Nord- oder Süddeutschland, ob wir in Österreich oder in Schlesien leben, lebenswichtig interessant. Unser Friede ist unteilbar.

 

Otto von Habsburg, geboren am 20. November 1912, Sohn des letzten österreichischen Kaisers Karl I., 1938 Flucht zunächst nach Frankreich, dann in die USA, 1944 Rückkehr nach Europa (Spanien, Frankreich, seit 1954 Pöcking/Oberbayern), seit 1972 Präsident der Paneuropaunion, seit 1979 Europaabgeordneter, 1989 Schirmherr des legendären "Paneuropa-Picknicks" in Sopron, das wesentlich zum Zusammenbruch des DDR-Kommunismus beigetragen hat. Die Fragen stellten: Hartwig Benzler, Karl P. Gerigk und Hans-Jürgen Mahlitz