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30.11.02 / Brüssel und die neuen Minderheitenprobleme der Bukowina

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 30. November 2002


Konflikte der Zukunft: Risse an der Peripherie
Brüssel und die neuen Minderheitenprobleme der Bukowina
von Martin Schmidt

Die Erweiterung der Europäischen Union ist noch garnicht umgesetzt, da zeichnen sich jenseits der zukünftigen Ostgrenzen bereits neue Reibungen ab.

Insbesondere die enorme wirtschaftliche Anziehungskraft des supranationalen Gebildes erzeugt an seiner Peripherie Neid, Gefühle des Ausgeschlossenseins und verstärkt schlummernde Minderheitenprobleme. Letzteres zeigt sich beispielsweise in der ukrainischen Nord-Bukowina.

Die einst türkische Bukowina (Buchenland) gehörte zwischen 1775 und 1918 zu Österreich und war seit 1849 das östlichste Kronland der k.u.k.-Monarchie. In den letzten fünf Jahrzehnten vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges erlebte die am Nordrand der Karpaten zwischen den Flüssen Dnjestr, Pruth und Bistritz gelegene Region eine bis dahin nie gekannte kulturelle und wirtschaftliche Blüte.

In der Hauptstadt Tschernowitz entstand die östlichste deutschsprachige Universität. Eine rege Bautätigkeit hinterließ Spuren, die in den größeren Orten bis heute unübersehbar sind.

Die vielen verschiedenen Völkerschaften - Ukrainer (Ruthenen), Rumänen, Polen, Deutsche, Juden usw. - lebten im großen und ganzen gedeihlich zusammen. Allerdings machten sich auch in der Bukowina während der Spätphase des Habsburgerreiches die aufkommenden Nationalbewegungen immer stärker bemerkbar.

Nach 1918 kam die gesamte Region zunächst zu Rumänien. Erst 1940 wurde sie geteilt und das Bild vom multikulturellen Musterland endgültig zerstört: Die Nordbukowina mit Tschernowitz fiel nach einem Ultimatum zwangsweise an die Sowjetunion. Die dort beheimateten Deutschen (um 1910 waren es 170 000) mußten gemäß einem am 5. September desselben Jahres geschlossenen Abkommen mit dem Dritten Reich nach Deutschland übersiedeln.

Mit einer kurzen Unterbrechung während des Krieges, als Rumänien seine Besitzansprüche mit deutscher Hilfe noch einmal durchsetzen konnte, blieb die Bukowina bis heute geteilt. Nur im südlichen rumänischen Teil, der sich jetzt "Nördliche Moldau" nennt, leben noch einige wenige Deutsche. Im Norden stellen die Ukrainer als Staatsvolk die Mehrheit, wenngleich es nach wie vor eine stattliche rumänische Minderheit gibt. Und eben diese bereitet den Behörden in Tschernowitz und Kiew zunehmend Kopfzerbrechen.

Wie die englischsprachige ukrainische Zeitung Kyiv Post am 7. November berichtete, erschienen in jüngster Zeit in der Lokalpresse Anzeigen, die zur Annahme der rumänischen Staatsbürgerschaft ermunterten. Die Inserate wiesen darauf hin, daß rumänische Pässe schon ab dem für 2007 angepeilten EU-Beitritt des Landes Reisefreiheit im "Wohlstandseuropa" bieten könnten. Daß bis zur EU-Tauglichkeit der Ukraine noch sehr viel mehr Zeit verstreichen wird, mußte nicht eigens erwähnt werden.

Laut Gesetz haben alle ehemaligen Staatsbürger Rumäniens und deren Nachfahren das Anrecht auf einen rumänischen Paß, also auch jene Familien, die vor 1940 in der Bukowina lebten.

Offizielle Zahlen über die bisherigen Anträge auf die rumänische Staatsbürgerschaft gibt es nicht. Nach Schätzungen der Tschernowitzer Zeitung Tschas haben bisher mindestens 20 000 der 940 000 Einwohner der Nordbukowina diesen Schritt getan.

Viele weitere könnten dazukommen, zumal bei der letzten sowjetischen Volkszählung von 1989 in der Ukraine 135 000 Rumänen und 325 000 (rumänische) "Moldawier" gezählt wurden. Ein Großteil davon ist in der Bukowina beheimatet.

Daß auch alteingesessene ethnische Ukrainer durchaus als mögliche Antragsteller für einen rumänischen Paß angesehen werden, machten zuletzt zwei offizielle Äußerungen deutlich. So sah sich Marin Cruceru, Konsul an der rumänischen Botschaft in Kiew, zu folgender Beschwichtigung veranlaßt: "Die ukrainischen Behörden gehen davon aus, daß wir zu vielen Ukrainern die rumänische Staatsbürgerschaft gewähren, aber diese Annahme ist falsch."

Und Teofil Bauer, der Gouverneur des Gebietes Tschernowitz, warnte am 30. Oktober in einer Ansprache im Regionalfernsehen alle Landsleute, daß mit dem Erwerb der Staatsbürgerschaft eines anderen Landes die ukrainische automatisch verloren gehe. Doppelpässe seien im Gesetz nicht vorgesehen, so Bauer, und die örtlichen Behörden würden all jene bestrafen, die etwaige Anträge bei der rumänischen Botschaft in Kiew oder den Konsulaten in Tschernowitz und Odessa verschwiegen.

Vergleichbare Konflikte wie in der Nord-Bukowina sind auch in anderen Landstrichen abzusehen, die der künftigen Ostgrenze der EU benachbart sind: etwa zwischen Weißrußland und seiner polnischen Minderheit, im stark russisch beeinflußten Moldawien, wo angeblich schon über 300 000 Personen einen rumänischen Paß in der Tasche haben, oder auch im russischen Grenzgebiet zur Republik Estland. In der nach dem Zweiten Weltkrieg abgetrennten südostestnischen Stadt Petseri (Petschory) soll es viele Menschen geben, die die Staatsbürgerschaft der Baltenrepublik anstreben. Voraussetzung ist, daß sie in der Region geboren wurden.

Manche Schätzungen gehen davon aus, daß mittlerweile die Hälfte der Einwohner von Petseri den blauen estnischen Paß besitzen. Realistischer dürfte die Zahl von 7000 Doppelstaatlern sein.

Jelena Klipowa vom russischen Sender REN TV erklärt die Entwicklung am Pleskauer See und am Peipus-See folgendermaßen: "Die russischen Staatsbürger können beispielsweise in Rußland für Rubel Benzin kaufen und es in Estland als Esten an Esten für Kronen verkaufen. Ein gutes Geschäft und kein Papierkram an der Grenze!"

Andererseits, so fährt sie fort, hätten sich die Staatsgrenzen geändert, "die Familien blieben aber an den selben Orten. Keinem ist ein Vorwurf daraus zu machen, daß einige Familienmitglieder jetzt in Estland leben und andere in Rußland".

Dennoch versteigt sich die Korrespondentin zu der sicherlich übertriebenen und auch wahrheitswidrigen Behauptung, daß die "Estlandisierung der Bevölkerung" immer weiter voranschreite. Denn es handelt sich hier ja um das Bekenntnis von Menschen, die der Diktator Stalin nicht gefragt hatte, als er das Gebiet der Sowjetrepublik Rußland zuschlug.

Jetzt nutzen sie die neuen Freiheiten, die sich ihnen bieten. Daß dabei auch ökonomische Vorteile eine Rolle spielen mögen, soll nicht bestritten werden. Doch sind sie mitnichten der Kern des aufkommenden Konflikts.

Einige der genannten Minderheitenprobleme könnten mittelfristig eine gefährliche Eigendynamik entwickeln. Deshalb ist es auch für die maßgeblichen Politiker der Europäischen Union unerläßlich, frühzeitig durch gezielte Maßnahmen auf eine Entspannung hinzuwirken.

Altes Kulturland Bukowina: Orthodoxe rumänische Klosterkirche im Südteil Foto: Hailer-Schmidt