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30.11.02 / Der Wunschzettel

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 30. November 2002


Der Wunschzettel
von Wolfgang J. Hochhaus

Früh brach in diesem Jahr der Winter über die Stadt Königsberg herein, kaum daß der Herbst verklungen. Es herrschte Frost, und an den Fensterscheiben bildeten sich bizarre Eisblumen. Zwar milderte sich das Wetter nach einigen Tagen, danach fiel unentwegt Schnee. Langsam und gemächlich sanken die Flocken auf Dächer, Laternen, Straßen und Bäume. So erschien die Stadt verzaubert. Alle Geräusche klangen gedämpft, nur das helle Jubeln der Kinder, die mit ihren Schlitten zu den Hügeln eilten, gellten durch die Straßen.

Kurt saß am Eßtisch, vor ihm lagen Papier, Lineal, Tuschkasten und Buntstifte. Er malte an seinem Wunschzettel, und der sollte in diesem Jahr besonders eindrucksvoll wirken. Nur um einen einzigen Herzenswunsch wollte er bitten - Schlittschuhe. Eifrig be- schäftigt überhörte er den Eintritt von Karlchen, seinem nach indianischer Art erwählten Blutsbruder. Um seinen Hals hingen an einem Lederband Schlittschuhe. Er trat zu Kurt an den Tisch: "Was machste da?" - "Siehste doch! Mutter sagte mir gestern, daß Knecht Ruprecht in den nächsten Tagen die Wunschzettel einsammeln werde."

Karlchen grinste, und in anzüglichem Ton fragte er: "Sag mal, du Blödian, glaubste etwa noch an-nen Weihnachtsmann?" Kurtchen, erbost: "Den Blödian nimmst du zurück, oder ..." Karlchen beschwichtigend: "Na klar, will ja keinen Blödian zum Blutsbruder haben." Indessen öffnete sich die Tür, und die Hausfrau kam, mit dem schwerfälligen Gang einer Schwangeren, zum Tisch, stellte zwei dampfende Tassen mit Kakao hin und lächelte: "Wird euch schmecken, Jungchens. Bist fertig mit dem Wunschzettel, Kurtchen?" Er reichte ihr sein Kunstwerk. Sie betrachtete es aufmerksam. "Das hast du schön gemacht", stellte sie lobend fest, "auch die Tannengirlande ist dir gut gelungen", und reichte den Zettel zurück.

Karlchen räusperte sich und fragte: "Wann kommt denn der Klapperstorch, Frau Adomeit?" Amüsiert schaute sie Karlchen an: "Na im Februar, du Naseweis. Zufrieden?" und verließ die Stube. "Im Februar", wiederholte Karlchen. "Hast schon mal in'ner Stadt 'nen Klapperstorch geseh'n, womöglich noch im Februar? Weißt, wo die Störche im Winter sich aufhalten? Lies mal das Buch ‚Rossitten' vom Vogelprofessor Thienemann, dann weißt es."

Lebhaft wiederholte Kurt: "Rossitten? Da war'n wir doch im Sommer mit der Klasse. Hab' aber kein Buch geseh'n. Würd' mich interessieren." - "Na, dann schreib' doch deinen Wunsch auf den Zettel. Veilleicht erfüllt ihn dein Weih-nachtsmann." Kurt zögerte, überlegte: "Meinste?", schließlich griff er zu einem Buntstift, äußerte: "Gute Idee", und ergänzte mit schöner Handschrift den Wunschzettel. Dann betrachtete er sein Werk kritisch, fragte Karlchen nach seiner Meinung. "Ja, ja, sehr schön. Doch eigentlich wollte ich mit dir Schlittschuhlaufen geh'n. Auf'm Walter-Simon-Platz haben sie 'ne Eisbahn gespritzt." Kurt klagte: "Weißt doch, meine alten Bogenschlittschuhe sind ausgeleiert, dazu noch stumpf. Macht mir keine Freude, mit denen zu laufen." - "Laß uns trotzdem geh'n. Zwischendurch leih' ich dir mal meine, klar?" Kurt stimmte zu, kramte seine angerosteten Schlittschuhe hervor. Auf der Eisbahn herrschte reges Leben. Mehr oder weniger gekonnt lief man Kurven, Achten, gar Pirouetten. Manche fielen sich im Eifer des Geschehens versehentlich in die Arme oder landeten auf der Eisfläche. Das tat der Freude keinen Abbruch. Überall Gelächter, Gekreische und Jubel. Unsere beiden Bowkes stürzten sich in den Trubel.

Am Nachmittag des ersten Weihnachtstages besuchte Karlchen mit umgehängten Schlittschuhen Kurt. Der hielt ihm triumphierend ein paar Schlittschuhe mit daran befestigten Schuhen entgegen: "Na, glaubst du nun an- nen Weihnachtsmann?" Karlchen nahm die Schlittschuhe, prüfte sie kennerisch, um dann festzustellen: "Ich glaub' eher an das Sportgeschäft Weiss inner Junkerstraß'", und grinste. Unverkennbar, er neidete ihm die Schlittschuhe, lobte aber dennoch: "Knorke, die Dinger! Laß sie ausprobieren. Prima Wetter zum Laufen, Sonne und Frost. Wohin also? Walter-Simon-Platz oder Dittchenclub?" Auffordernd sah er seinen Blutsbruder an. Der zögerte keinen Augenblick: "Dittchenclub!"

So trabten sie ab, entlang der Richard-Wagner-Straße, querten den Steindamm, bogen in die Poststraße ein, und am Paradeplatz entlang ging es bei der Buchhandlung Gräfe & Unzer um die Ecke auf den Schloßteich zu. Die Auslagen im Schaufenster der Buchhandlung ließen Karlchen fragen: "Hast du das Buch Rossitten von deinem Weihnachtsmann erhalten, Kurt?" - "Hab' ich, und der Weihnachtsmann gab es meiner Tante Frieda für mich. Über die Hälfte schon gelesen. Stimmt, Klapperstörche im Winter ist Quatsch mit Soße!" - "Na also, lesen bildet, wie Lehrer Schulz uns immer sagt. Du bist der Beweis, Kurt! Und was hältst du von den Osterhasen, die plötzlich buntgefärbte, hartgekochte Hüh-nereier legen? Manchmal auch Zucker- und Schokoladeneier, alles stets aus dem gleichen Loch!" Erwartungsvoll sah er auf Kurt. Der schwieg nachdenklich. "Laß mich mal erst den Klapperstorch verdauen. Eins nach dem andern, klar?"

Mittlerweile hatten sie ihr Ziel erreicht, den Dittchenclub. Auf dem Schloßteich gab es weitere und vornehmere Schlittschuhclubs. Aber mit einem Dittchen kam man nicht einmal an ihren Zaun heran. Kurt und Karlchen mischten sich unter die Läufer. Dieser mußte sich gestehen, daß Kurt viel besser, eleganter lief als er. Er zog seine Bögen, fuhr Achten vorwärts wie rückwärts, alles gekonnt wie ein Eiskunstläufer. Wie im Fluge verging die Zeit. Als die Bogenlampen erstrahlten, brachen sie heimwärts auf. Es begann zu schneien, und im Licht der Gaslaternen wirbelten die Flocken. Am Eingang zur Junkerstraße leuchtete der große Weihnachtsbaum im Lichterglanz, umtanzt von Schneegestöber. Vorwiegend schweigsam und ermüdet zogen die beiden nach Hause.

In Karlchen nagte ein Neidgefühl über die Künste seines Blutsbruders wie auf dessen Schlittschuhe. Irgendwie mußte er sich abreagieren. Auf der Höhe der Neuroßgärter Kirche bemerkte er: "Deine Schlittschuh' sind 'ne Wucht. Kein Wunder, wie du damit die Lauf- figuren schaffst." Stumm dazu nickend bestätigte Kurt die Bemerkung seines Freundes. "Hör mal, Blutsbruder, hast du eigentlich nach altem Brauch und alter Sitte deine Schlittschuhe begrüßt und um Glück gebeten?" Verneinend schüttelte Kurt seinen Kopf: "Nee, wie denn das?"

"Wie denn? Du Pflaume. Das weiß man doch. Du mußt die rechte Kufe deines Schlittschuhs küssen!"

Es herrschten etwa 6 Grad Frost! Spontan ergriff Kurt die Kufe und küßte sie. Feixend beobachtete Karlchen den Vorgang. Kurt hing mit Lippen und Zunge fest an der Schlittschuhkufe und keuchte. Nun bekam es Karlchen mit der Angst zu tun, ergriff Kurts freie Hand, rannte mit ihm um die Ecke zum Triangel. "Halt durch, Kurt, gleich sind wir am warmen Kachelofen."

Tatsächlich, dort löste sich die Haftung und Kurt atmete erleichtert auf. Seine Mutter hatte die Lage schnell erfaßt. Besorgt deutete sie mit drohendem Finger auf Karlchen: "Das hat doch sicher dieser Lorbaß dir eingebrockt, nich'?" Die Blutsbrüderschaft erlitt durch diesen Schabernack allerdings keinen Schaden, wie auch Zunge und Lippe von Kurt.