28.03.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
14.12.02 / Die Kinder werden verstaatlicht / Rotgrüne Familienkunde: Die kulturelle Revolution irrt vorwärts

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 14. Dezember 2002


Die Kinder werden verstaatlicht
Rotgrüne Familienkunde: Die kulturelle Revolution irrt vorwärts

Ganztagsschulen, Ganztagskindergärten, Krippen, mehr Betreuung durch den Staat als durch die Eltern. Was der Bundesregierung zum Thema "Entlastung der Familien" einfällt, zielt in Wahrheit auf deren Entmachtung in ihrer ureigensten Aufgabe: der Erziehung des Nachwuchses. Auf wundersame Weise verschmilzt hier alte linke Ideologie mit den Inte- ressen der modernen Wirtschaft. Die Folgen dieser Politik für unser Gemeinwesen werden düster sein. von Jürgen Liminski

Vor genau zehn Jahren schrieb ein junger Philosoph an der Universität Sankt Gallen ein Büchlein mit dem Titel: "Eltern - Kleine Philosophie einer riskanten Lebensform". Er heißt Dieter Thomä, und seine ersten, erfrischenden Sätze lauten: "Philosophie beginnt, so liest man bei Platon und Aristoteles, mit dem Staunen. Damit soll sie aber, geht man nach den Philosophen, nicht aufhören. Durch klärendes Denken soll man dem Staunen, ‚der Unwissenheit entkommen'. Eltern werden da schlecht mithalten können. Sie kommen nämlich bei dem, was sie mit ihren Kindern erleben, aus dem Staunen oft gar nicht mehr heraus." Das gilt heute immer noch, und man kann sagen, sogar doppelt. Denn heute staunen viele Eltern nicht nur über ihre Kinder, sondern mehr noch über Vater Staat. Der entwickelt sich nämlich mit rasender Eile zu einem Übervater und sorgt seit dem 22. September für manches Trauma.

Der rotgrüne Übervater Staat strebt eine kulturelle Revolution an. Die Lufthoheit über den Kinderbetten will er erobern. Und bevor die Eltern sich die Augen gerieben oder in den Arm gezwickt haben, um sich der Wirklichkeit solcher Parolen zu vergewissern, werden sie auch schon mit Inhalt gefüllt: Mehr Ganztagsschulen, Krippen und Ganztagskindergärten, mehr Erziehung durch den Staat, weniger durch die Eltern, mehr Familienkunde in staatlichen Anstalten und weniger Familienheime durch weniger Eigenheimförderung, mehr Staatshilfe beim Lernen, was Liebe ist, und weniger Beispiel durch die Eltern, denn da soll es ein paar ganz schlechte geben. Von der Wiege bis zur Bahre ist der Staat das einzig Wahre.

Es ist keine neue Ideologie. Schon Altvater Marx und sein Freund Engels haben sich über das Auslagern familiärer Strukturen in staatliche Obhut, Outsourcing würde man heute sagen, Gedanken gemacht. Wer jedenfalls solche revo- lutionären Parolen wie die des SPD-Generalsekretärs hört, wird unweigerlich an Marx und Engels erinnert. An Marx, der die moderne Einzelfamilie als "Haussklaverei der Frau" bezeichnete, als Abbild der Sklavenhaltergesellschaft, weshalb es zur Aufhebung der Ehe als staatlich umhegtes Institut sowie der Familie und des Erziehungsrechts der Eltern kommen müsse.

Oder an Engels, der es so formulierte: "Erziehung sämtlicher Kinder, von dem Augenblick an, wo sie der ersten mütterlichen Pflege entbehren können, in Nationalanstalten und auf Nationalkosten. Erziehung und Fabrikation zusammen."

Es geht um die emotionalen Beziehungen zu Hause. Sie sollen vergesellschaftet werden. Übervater Staat will sie regeln. Dabei sind sie, also der geschützte Raum persönlicher Intimität, das letzte Bollwerk der Familie gegenüber dem kalten, berechnenden Staat, der nur die Wirtschaftsabläufe sieht, der als seelenloses Konstrukt nur das Funktionieren des Menschen als Produktionsfaktor im Sinn hat. Die Pflege der familiären Intim- und Gefühlsbeziehungen ist, wie der große Soziologe Schelsky schon vor Jahrzehnten konstatierte, heute die Hauptfunktion der Familie. Und nur sie kann diese Aufgabe erfüllen, weil nur in ihr die menschlichen Beziehungen bis zur Tiefe der Vitalbindung reichen, die das Urvertrauen ermöglicht und emotionale Stabilität erzeugt. "Beglückend und unersetzlich" nennt Papst Paul VI. die von den Eltern "empfangene Persönlichkeitsbildung", weshalb die Familie "Ursprung und Grundlage des gesellschaftlichen Lebens" (5. Januar 1964) und die Ehe "die Lebenszelle der Gesellschaft" ist (Päpstlicher Rat für die Familie, 12. Februar 1997).

Der emotionalen Stabilität und der Liebesbeziehung zu Hause soll nun im Fach Familienkunde die Erziehung zu Partnerschaft und Familie entgegengesetzt werden - und zwar von kleinsten Kindesbeinen an. Dabei werden wie selbstverständlich die Ergebnisse der Wissenschaft übersehen, wenn sie nicht in den eigenen Ideologiekram passen. Professor Wolfgang Tietze vom Institut für Kleinkindpädagogik der Freien Universität Berlin hat in der ersten umfassenden Qualitätsstudie über Kindergärten festgestellt, daß selbst schlechte, das heißt unvorbereitete und ungebildete, Eltern besser erziehen als gute Kindergärten. In Kindergärten kann schon wegen der meist hohen Zahl an Kindern in einer Gruppe nicht viel mehr als eine Betreuung (satt, sauber, beschäftigt) geleistet werden. In Krippen und Kindergärten wird ein "Job" verrichtet, Eltern aber lieben. Das Argument "Nicht alle Eltern lieben" gilt dem Einzelfall, nicht der Masse. Meist handelt es sich dann um kranke oder kriminelle Eltern. Natürlich machen alle Eltern Fehler, aber die sind in der Regel reparabel. Irreparabel scheint das Denken der rotgrünen Revolutionäre zu sein. Sie erinnern in ihrer Unbelehrbarkeit an Robert Musils Mann ohne Eigenschaften, der siegesgewiß bemerkte: "Wir irren vorwärts." Für Vernunft sind sie kaum zugänglich.

Wer für die Präsenz der Mutter zu Hause plädiert, dem werden geradezu hysterisch an sich harmlose Geräte wie ein Herd (warum eigentlich nicht die von den Grünen so geliebten Stricknadeln?) als vermeintliches Argument an den Kopf geworfen. Man wird als altmodisch und antiquiert abgetan. Aber das sind keine Argumente, nur Behauptungen. Überdies solche, die schon reaktionär anmuten. Die Bedeutung des Humankapitals wird vergessen, und selbst Feministinnen wie Germaine Greer reden seit Jahren der Mütterlichkeit, ja dem Recht auf Mütterlichkeit für die Frauen das Wort und fordern in diesem Sinn sogar einen Erziehungslohn. Mit dem überholten, reaktionären Emanzipationsdenken wird nicht nur die Natur der Frau und Mutter negiert, sondern auch ein Selbstzerstörungsprozeß befördert. Am augenscheinlichsten ist dieser Prozeß am demographischen Wandel zu beobachten. Es liegt auf der Hand, daß das Geburtendefizit durch die Abtreibungsmentalität verschärft wird. Völker können aussterben und tun es auch. Auch die Deutschen können eines Tages aussterben, die Welt kann auch ohne sie auskommen, meinte schon Werner Bergengruen vor über fünfzig Jahren.

Dieser geburtenfeindlichen Haltung mag als Ursache das allgemeine Ich-Denken zugrunde liegen, das von Politik und Wirtschaft außerdem noch hofiert wird. Vor allem Politikerinnen in Deutschland verkennen den Wandel. Er paßt nicht in das persönliche Drei-K-Denken von Kerl, Karriere, Konsum. Statt den Beruf der Familienmanagerin oder Hausfrau und Mutter anzuerkennen und aufzuwerten, wird erst mal die Prostitution anerkannt und in den Salon der postmodernen Gesellschaft eingeführt nach dem Motto: lieber in den Puff als an den Herd. Mit Menschlichkeit hat das nichts mehr zu tun.

Die Verfemung des Herds als Symbol für die Präsenz zu Hause ist die andere Seite der Münze, mit der Wirtschaft und Politik ihre Maschinen ans Laufen bringen. Auf der Strecke bleiben die Kinder. Daß Mütter zu Hause fehlen und die Kinder deshalb stundenlang Fernsehen und Computer ausgeliefert sind, wie der Amokläufer Robert S. in Erfurt, dieses Faktum wird tabuisiert. Es geht nicht um die permanente Präsenz der Mutter, es geht um das Vakuum, das ihr Fernbleiben hinterläßt. Wenn es nicht von Großeltern oder anderen gefüllt wird, treten die elektronischen Babysitter auf den Plan - oder eben der Staat. Es gibt kein Vakuum in der Erziehung. Jede Diskussion über Werte und Erziehung ist überflüssig, wenn der Vermittler fehlt. Er oder sie ist es, die durch die Beziehung Erziehung schafft. Erziehung ist Beschenkung mit Menschlichkeit, wie Johannes Paul II. sagt, nicht Beschenkung mit Filmen, Computerspielen oder staatlichen Betreuungspersonen.

Es fehlt in Deutschland dramatisch an diesem Geschenk der Menschlichkeit. Insofern wären Schulfächer zum Bereich der Erziehung durchaus angebracht. So wie die Rotgrünen das allerdings im Kopf haben, müssen die normale Mutter und der einfache Vater skeptisch sein. Ihnen, den Eltern, sei einmal in aller Ruhe gesagt: Man kann auch in der Familie Karriere machen. Nur heißt hier Karriere nicht Macht, sondern Freundschaft, nicht Geld, sondern Glück. Wer aber weiter die Mutter, die Managerin der familiären Gefühlswelt, so diskriminiert, wie es die Rotgrünen tun, der operiert am offenen Herzen der Gesellschaft.

Beschenkung mit Menschlichkeit - dafür braucht es Präsenz. Sie ist die unentbehrliche Grundlage für eine liebende, persönliche Erziehung. Natürlich gibt es viele Fälle, in denen eine ständige Präsenz nicht möglich ist, weil beide Elternteile arbeiten müssen, um über die Runden zu kommen. Das Problem heute ist, daß in einer vom demographischen Defizit geprägten und durch und durch ökonomisierten Welt, in der der Markt der Politik diktiert, was sie zu tun hat, und das noch unter dem Werbeplakat der Freiheit, daß in dieser Deutschland-AG die Frauen zur stillen Reserve der Produktion geworden sind. Die Funktionäre der großen Wirtschaftsverbände klagen bei der Politik Betreuungsmöglichkeiten rund um die Uhr ein, damit die Maschinen ebenfalls rund um die Uhr bedient und die Produktionskapazitäten ausgelastet werden können. Die rotgrüne Regierung folgt ihr nur allzu willig, sei es aus ideologischen Gründen, sei es aus Willfährigkeit gegenüber der Wirtschaft oder weil sie es nicht besser weiß.

Man könnte meinen, die Markt-ideologie habe den Marxismus ersetzt, für die Familie hat sich in der Praxis jedenfalls nicht viel geändert. Und manche der rotgrünen Revolutionäre scheinen auch ganz genau zu wissen, was sie wollen. Sonst würden sie nicht so offen von einer "kulturellen Revolution" reden. Natürlich wird mit Gründen der praktischen Vernunft und der Wirtschaftlichkeit argumentiert. Dem- nach ist die Ganztagsbetreuung nach dem 22. September - übrigens vorher auch schon, und zwar nicht nur bei Rotgrün - das Nonplusultra der Fami-lien- und Wirtschaftspolitik. Aber das ist wieder nur die eine Seite. Nämlich die, die von den vermeintlichen Wünschen der Frauen und Mütter ausgeht, also eine Art Selbstverwirklichungsprogramm darstellt. Aber man könnte ja auch mal vom Wohl des Kindes ausgehen. Dieses besteht sicher mehr in einer Erziehung als in einer Betreuung. Für angesehene Pädagogen und/oder Psychologen wie Pestalozzi, Piaget, Montessori, Meves oder Hellbrügge, um nur diese zu nennen, steht außer Zweifel, was auch der gesunde Menschenverstand sagt: Es ist gut für das Kind, wenn die erste Bezugsperson, die Mutter, präsent ist. Es ist eben auch besser als jede Krippe und jeder Kindergarten. Pestalozzi sagt es so: "Ein Kind, das nie in das liebende Auge einer Mutter geschaut hat, wird später keine Liebe schenken können." Und die amerikanische Schriftstellerin Pearl S. Buck sieht es genauso konsequent: "Kinder, die man nicht liebt, werden Erwachsene, die nicht lieben."

Mit dem Begriff und der Lebenswirklichkeit Liebe können Ideologen nicht viel anfangen. Ihnen schwebt auch meist ein Idealbild von Gerechtigkeit vor. Der große Irrtum der Ideologen in Berlin nun liegt darin, daß sie Gerechtigkeit mit Gleichheit verwechseln. Und Gleichheit mit Gemeinwohl gleichsetzen. Sie übersehen, daß Gleichheit überhaupt kein Ziel der Gerechtigkeit ist. Die in Basel lehrende Professorin Angelika Krebs weist in einem hochinteressanten Buch über "Arbeit und Liebe - die philosophischen Grundlagen sozialer Gerechtigkeit" auf diesen grundsätzlichen Irrtum hin. Sie schreibt: "Die Anziehungskraft der egalitaristischen (gleichmacherischen) Gerechtigkeitsintuition beruht vor allem auf einer Verwechslung von Allgemeinheit mit Gleichheit. Die elementaren Standards der Gerechtigkeit fordern menschenwürdige Lebensbedingungen für alle... Wenn nun ein Mensch unter Hunger oder Krankheit leidet, ist ihm zu helfen, weil Hunger und Krankheit für jeden Menschen schreckliche Zustände sind, und nicht deswegen, weil es anderen schließlich besser geht als ihm. Die Gleichheitsrelation, die sich einstellt, wenn allen Hilfsbedürftigen geholfen ist und alle tatsächlich menschenwürdig leben können, ist nichts als das Nebenprodukt der Erfüllung der absoluten Gerechtigkeitsstandards für alle. Gleichheit sitzt hier auf Allgemeinheit auf. Der Egalitarismus irrt, wenn er Gleichheit zum Ziel von Gerechtigkeit erhebt."

Erziehung ist mehr als Betreuung und mehr als Wissensvermittlung, man kann es offenbar nicht oft genug wiederholen für die Pisa-Pioniere in der Politik. Von der Erziehung hängt auch die Qualität der Staatsgemeinschaft ab. Mehr noch: Das Gemeinwesen in seiner jetzigen Form steht insofern auf dem Spiel, als mit der Familie die Hauptquelle für die Erziehung zum Gemeinsinn entfällt. Die Familie ist der gesunde Nährboden für die Sozialisierung der Person, das geistige Umfeld für das Hineinwachsen in die Gesellschaft. Es ist bezeichnend, daß - folgt man der wissenschaftlichen Literatur - "die Erzeugung solidarischen Verhaltens" als ein Grund für den verfassungsrechtlichen Schutz der Familie genannt wird. Es sei eine Leistung, die in der Familie "in einer auf andere Weise nicht erreichbaren Effektivität und Qualität" erbracht werde. Die Familie ist der Motor der freiheitlichen Gesellschaft. Der frühere Verfassungsrichter Paul Kirchhof sieht die Staatsleistungen für Ehe und Familie daher durchaus im Interesse des Staates selbst. Und das nicht nur demographisch, indem die Leistung auch geburtenfördend sein soll, sondern auch für die freiheitliche Verfaßtheit dieser Gesellschaft sei die Staatsleistung für Ehe und Familie geradezu existentiell. Er greift in diesem Zusammenhang gern auf Montesquieu zurück, der diese Kausalkette herstellte: Ohne Familie keine wirksame Erziehung, ohne Erziehung keine Persönlichkeit, ohne Persönlichkeit keine Freiheit.

Eine weitere Aushöhlung der Institutionen von Ehe und Familie wird sich aufs Ganze gesehen auf den Staat, auf seine Gesundheitssysteme, die Altersversorgung und auf die Sozialhilfe niederschlagen. Insofern ist es geradezu kontraproduktiv und zerstörerisch, eine ohnehin in ihrem pädagogischen und menschlichen Nutzen zweifelhafte Ganztagsbetreuung durch einen Abbau der Familienförderung oder durch die weitere materielle Verarmung der Familie finanzieren zu wollen. Man zerstört ein Gut, um ein Übel zu finanzieren. Wie die Gesellschaft das verkraften soll, bleibt das Geheimnis rotgrüner Politiker und derjenigen, die dazu schweigen. Oder, um es mit den Worten von Don Bosco zu sagen: Das Böse in der Welt lebt von der Feigheit der Guten. Hier sind sicher auch die Bischöfe gefordert. Ohne Eltern ist kein Staat zu machen - und auch keine Kirche. Die riskante Lebensform Eltern zu gefährden oder gefährden zu lassen ist ein Risiko für alle.