20.04.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
14.12.02 / Hochgelobter neuer Roman von Ian McEwan

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 14. Dezember 2002


Kalte Figuren
Hochgelobter neuer Roman von Ian McEwan

Ein "großer Wurf", urteilte die Süddeutsche Zeitung, und "Hymne an die englische Literatur" schrieb die FAZ. Die Zeit bezeichnete das neueste Werk des Briten Ian McEwan sogar als ein "tiefenpsychologisches Meisterwerk" und "Glanzstück dichterischer Liebeskunst". Die Bestsellerliste des Spiegel führt den von den Kritikern hochgelobten Roman "Abbitte" auch schon seit einigen Wochen unter den ersten Zehn. Was ist das für ein Buch, das so einstimmiges Lob erhält?

Die Geschichte spielt 1935 auf einen Landsitz. Es ist ein stickiger Sommertag, und die Familie hat Freunde zu Gast. Die 13jährige schreibwütige Briony will ein selbstverfaßtes Theaterstück mit Hilfe ihrer angereisten Cousins und der Cousine aufführen, doch die wollen nicht so wie das eigenwillige Mädchen. Als sie daraufhin ihre 23jährige Schwester mit dem Gärtnersohn Robbie in flagranti in der Bibliothek erwischt, geht die Phantasie des Kindes durch. Sie sieht sich als glorreiche Heldin, die nun ihre bedrängte Schwester retten will, und als sich die Umstände dazu bieten, spinnt sie sich ihre eigene Wirklichkeit zurecht, die den Geliebten ihrer Schwester ins Gefängnis führt und die Schwestern entzweit.

Es ist faszinierend, wie McEwan die verschiedenen Sichtweisen der Personen schildert. Fast alle Geschehnisse dieses Sommertages werden von mehreren Personen beschrieben. Die äußere Handlung bei McEwan ist im Grunde ziemlich einfach zu umreißen, was bei ihm zählt, ist die innere Handlung. Für Literaturkenner gibt es immer wieder Hinweise auf große Werke und Motive der Weltliteratur, und auch sprachlich kann der Autor in der Liga der großen Meister mitspielen. Trotzdem sollte man nicht uneingeschränkt in die Lobgesänge der Rezensenten einstimmen, denn bei aller Bewunderung der künstlerischen Gestaltung des Romans sollte eine Geschichte auch unterhalten und berühren. Bei "Abbitte" springt der Funke jedenfalls nicht spontan über. Das Schicksal der Figuren läßt kalt. So ist es egal, ob der sich 1940 im Flüchtlingstreck Richtung Dünkirchen befindende Robbie seine geliebte Cecilia wiedertrifft oder ob Briony ihre Schuld aus Kindertagen abtragen kann.

Es entsteht bei der Lektüre der Eindruck, daß der Autor sich zu sehr auf die künstlerische Wirkung seines Romans konzentriert hat, dabei allerdings vergessen hat, daß Gefühle nicht nur analysiert, sondern auch empfunden werden wollen. Rebecca Bellano

Ian McEwan: "Abbitte", Diogenes Verlag, Zürich 2002, gebunden, 533 Seiten, 24,90 Euro