19.04.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
14.12.02 / Spuren im Schnee

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 14. Dezember 2002


Spuren im Schnee
von Christel Bethke

In der Weihnachtspost, die die alte Frau erhalten hatte, war vieles, was Bezug auf ihre Heimat Ostpreußen hatte: ein Heft mit Berichten über verschwundene Herrensitze, Bücher mit Geschichten voller Erinnerungen dieser und jener Version. Da gab es Weihnachten auf dem Schloß, Weihnachten beim Stellmacher im Dorf, der einen Extraauftrag vom Schloß erhalten hatte und diese Holzklumpen anfertigen durfte, die die "Leute" am Heiligen Abend auf dem Gesindegabentisch vorfinden würden, nachdem sie der Gnädigen die Hand geküßt und geknickst hatten. Eine Geschichte handelte von einem schwindsüchtigen Kind, das am Weihnachtsabend noch das Kindlein schauen durfte und dann beseligt einschlief.

Schon halb weggeduselt - alte Menschen schlafen öfter unvermutet ein - kommen der alten Frau Bedenken. Sie ruckst sich zurecht. Ja, was ist denn das? Selbst die bitterste Armut wird in diesen Erinnerungsgeschichten verklärt. Wie war es denn bei ihr früher gewesen, wie war das Fest in ihrer Kindheit verlaufen, und was daran so stark, daß es heute noch wärmte?

Es war das Fest an sich gewesen, bedenkt sich die Alte. Was es sonst nicht so leicht gab, gab es an diesem Tag: Licht und Wärme. Man hatte von der Glut im Küchenherd auf einer Kohlenschaufel etwas in die kleine Stube gebracht und dort den Kachelofen angemacht. Die Stube wurde sonst nicht geheizt. Die Eisblumen auf den Scheiben der Doppelfenster, in ihrer ganzen Pracht und Schönheit zu sehen und zu fühlen, tauten nur langsam, wurde zu Wasser und füllten die Rille in der Fensterbank. Es dauerte, bis die Stube warm wurde. Dann aber blieb die Tür auf und es gab wie überall einen mit Lichtern, Lametta, Engelshaar und Girlanden aus Gold- und Silberflitter geschmückten Tannenbaum. Modefarben gab es damals noch nicht. Er sah jedes Jahr gleich aus, auch jedes Jahr die selben bunten Pappteller, darauf Pfefferkuchen, Äpfel eigener Ernte, die schon an Bratäpfel denken ließen, so verschrumpelt waren sie, Nüsse, Geleeringe und solche aus Schokolade mit buntem Streusel. Es gab natürlich auch Geschenke. Alle praktischer Art. Aber die eigentliche echte tiefe Freude lag im Sinn des Festes.

Der Baum würde sich lange frisch halten, denn die Tür schloß sich schon am dritten Tag und die kleine Stube versank wieder in Kälte und Dunkelheit. Nur wenn die Kinder manchmal die Tür einen Spalt weit öffneten, glänzte er noch geheimnisvoll Ende Januar. Sie konnte sich auch nicht daran erinnern, daß man so lieblos wie heute mit ihm umging, wenn er ausgedient hatte. Direkt gleichgültig, hatte sie gedacht, als sie auf ihrem Spaziergang gleich nach Weihnachten zwei Bäume an einer Stelle abgelegt sah, wo sie ganz gewiß nicht hingehörten. Als sie heute durch den frisch gefallenen Schnee gestapft war, hatte sie mit Vergnügen die Spuren besehen, die ihre neuen Schuhe hinterlassen hatten. Wie alle Winter hatte sie an die Flucht denken müssen, und wie schlecht sie dafür ausgerüstet waren. Mit Leichtigkeit wäre sie mit diesen Schuhen über das Haff gegangen. Wie viele Kilometer waren das überhaupt? Sie mußte nachher mal auf der Karte nachsehen.

Sie hatte viele Spuren hinterlassen. Im Krieg gehörten dazu die Holzklapperlatschen, an denen immer dann die Riemen abrissen, wenn gerade kein Stein in Sicht war, um sie wieder anzuhämmern. Dann die hohen Schuhe im Winter, manchmal mit Nägeln zusätzlich beschlagen, damit die Sohlen nicht so schnell abnutzten. Schwer wie Blei an den Füßen! Wie gern hätte sie auf dem Gabentisch ein Paar von diesen Schuhen gehabt, an denen Schlittschuhe gleich befestigt waren. Denn das liebte sie über alles: Schlittschuhlaufen!

Ein wenig Wärme und Geborgenheit sind dennoch geblieben. Lag es an der Ruhe, die in allem Tun lag, und daran, daß es noch nicht diese gehetzte Tatenlosigkeit gab, die heute so vorherrschend ist? "Was du dir auch immer für Gedanken machst", hatte neulich die Tochter zu ihr gesagt, als sie ihr von den Weihnachts- und Wintererinnerungen erzählte.

Sie hatte ja recht, aber was soll man dagegen tun, wenn einem bei Spuren im Schnee solche Gedanken kommen?