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01.02.03 / Ein ostpreussischer Lorbas

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 01. Februar 2003


Ein ostpreussischer Lorbas
von Heinz Glogau

Schon in der Quarta oder Untertertia saß er neben mir. Er war der Sohn eines Bauern, der draußen vor der Stadt ein Gehöft mit Wohnhaus, Stall und Scheune hatte. Doch Fritz war nicht so, wie man sich allgemein einen Bauernsohn vorstellt: stocksteif und langsam denkend. Nein! Fritz war zwar nur 1,61 m groß, doch dafür schnell denkend und reaktionsflink sowie ein geschmeidig flinker Turner an Reck, Barren, Bock und Kletterstange. In der Turnhalle in der Mohrunger Poststraße bewies er das fast täglich.

Obwohl er außerhalb der Stadt wohnte, war er stets vor mir in der Herderschule. Ich stürmte meist eine Minute vor Unterrichtsbeginn die Treppe hoch, auf derem ersten Absatz Dr. Ahlert, Pappkopp genannt, stand, den Ärmel seines weißen Kittels hochschob und auf seine Armbanduhr schielte, obwohl direkt vor seiner Nase die große Schuluhr tickte.

Eines Tages brachte Fritz den Rest einer Spielzeuglokomotive mit zur Schule. Ausgerechnet bei Misjöh Vougeois, einem zittrig nervösen Lehrer, kurbelte er das Federwerk. Die bis dahin zwischen zwei roten Rädern in Bögen herausschauende Feder zog sich zusammen, doch als Fritz die Bremse lockerte, ließ sie ihre Räder drehen und schnurren. Unser Französischexperte wackelte mit seinem Kopf und starrte durch seine dicken Brillengläser. Doch Fritz hatte längst die Bremse gezogen, so daß sich sofort Stille im Klassenzimmer breitmachte.

Misjöh parlierte weiter, und mein Banknachbar kurbelte seine neugierige Feder in ihren Räderkasten. Als sich Misjöh der Tafel näherte, lockerte Fritz erneut den Bremsenhebel. Das Gehör unseres Sprachexperten hatte zwar 1916/17 vor Verdun etwas gelitten, doch das erneute Geräusch nahm es wohl wahr. Er federte leichten Schrittes auf unsere Bank zu, stierte uns scharf an und fragte meinen Nachbarn auf Französisch, was wir gegenwärtig täten.

Ich frohlockte: Jetzt hat der Pauker den Spielefritz erwischt! Doch Fritz hatte längst sein Federwerk in der Taschenablage der Schulbank verschwinden lassen. Er sprang auf und antwortete perfekt: "Nous apprendons la langue francais, Monsieur!"

"Très bien! Söhr richtik! Sötz dich!"

Des Lehrers Verdacht schien beseitigt. Er drehte sich um. Sirr. Fritz hatte die Bremse wieder gelockert. Ich saß wie auf einem Nagelbrett, "Knack-knack!" machte die Feder und schaute in Bögen wie neugierig aus dem Antriebskasten heraus. Das müßte auch ein zweimal Verschütteter gehört haben.

Herr Vougeois stürzte auf mich zu und verlangte, daß ich im Text weiter lese. Ich stand da wie ein Pomuchelskopp. Ich fand die Stelle nicht, weil mich Fritzens Räderwerk abgelenkt hatte.

"Miserabel! Eine Söchs!" zischte Misjöh. Ich ließ mich erschlagen auf den Sitz meiner Bank fallen.

Ab 7. Klasse - die Klassennamen Sexta, Quinta, Quarta usw. hatte man inzwischen verbannt - saßen wir nun auf Stühlen, an Tischen. Jeder kannte sein Sitzmöbel. Eines Tages merkte ich, daß der Stuhl an meinem Platz nicht der meine war. Während alle den Gruß von Lehrer Krause erwiderten, zog ich meinen Stuhl, der hinter Fritz stand, zu mir herüber. Nachbar Fritz jedoch ließ sich, ohne nach dem vermeintlichen Stuhl hinter sich zu grapschen, nach hinten fallen. Er landete auf dem Fußboden und donnerte mit seinem Hinterkopf an die Klassenzimmerwand, denn ich hatte seinen Suhl noch nicht an die richtige Stelle bugsiert. Fritz am Fußboden, das sah recht komisch aus. Ich mußte lachen. Fritz rieb sich seinen Schädel und lachte - Gott sei Dank - mit.

Ende 1942 trennten sich abrupt unsere Wege. Während mich die Wehrmacht holte, konnte Fritz sein Abitur regulär im März 1943 ablegen. 43 Jahre später regte unsere ehemalige Mitschülerin aus der Obertertia, Else Tischtau, ein Treffen der Mohrunger Herderschüler an. Auf ihrer nächsten Einladung Januar 1989 fand ich neben 18 mir bekannten Namen auch den Namen und die Adresse meines ehemaligen Banknachbarn. Ich schrieb sofort an ihn nach München und prompt bekam ich Antwort. Leider hielt er vom Herderschultreffen in Bad Pyrmont nicht viel. Doch hat er mich nun jedes Jahr zu Weihnachten oder zum Jahreswechsel angerufen, und wir haben Erinnerungen ausgetauscht. Von seinen Streichen mit Studienassessor Vougeois wollte er allerdings nichts hören. Lag es daran, daß er etliche Jahre Direktor einer Schule in München gewesen war?

Zu den Weihnachtsfeiertagen 2000 blieb sein Anruf aus. Auf meine Frage antwortete mir seine Frau Rose: "Ich muß Ihnen leider mitteilen, daß mein Mann Fried-rich Graf am 11. Juli 2000 verstorben ist. Er war lange krank gewesen, und dennoch war es zu früh ..."

 

Günther H. Ruddies wurde am 1. Februar 1928 in Insterburg geboren und verlebte seine Kindheit in Gumbinnen. Nach dem Krieg studierte er Pädagogik und Psychologie in Rostock, Bonn und Heidelberg. Er arbeitete als Psychologe in der Personalberatung und seit 1972 als Dozent in der Lehrerfort- und Erwachsenenbildung. 1993 trat der Ostpreuße, der seit 1955 in Stuttgart lebt, in den Ruhestand und fand so noch mehr Zeit, seine psychologischen Sachbücher und seine meist humorvollen Bücher über seine Heimat Ostpreußen zu veröffentlichen. Glückwunsch zum 75.!