20.04.2024

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08.02.03 / Bomben über Dresden / Eine Königsbergerin erlebt die Angriffe im Februar 1945

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 08.Februar 2003


Bomben über Dresden / Eine Königsbergerin erlebt die Angriffe im Februar 1945
von Christa Schulz-Jedamski

Jetzt wurde es aber Zeit. Oben auf dem Boden standen noch immer einige Kisten vom letzten Umzug rum, und ich wußte schon gar nicht mehr, was da im Einzelnen noch alles verpackt war. Also machte ich mich ans Werk und sortierte aus - sortierte aus! Seufzend drehte ich mich um, es nahm aber auch kein Ende und ich hatte auch keine Lust mehr. Aber da sah ich ganz hinten in der Ecke einen alten Koffer stehen. Das war ja Muttis Handkoffer aus Königsberg!

Ich erkannte ihn sofort, der hatte uns auf der Flucht von zu Hause begleitet, von uns festgehalten, verteidigt und behütet, um ihn ja nicht in dem Chaos des Krieges zu verlieren.

Ziemlich ramponiert sah er aus, was hatte er auch alles mitgemacht! Gestoßen, getreten, hin- und hergeworfen wurde er, Schnee, Eis, Regen, Wasser und Feuer mußte er ertragen, und alles hatte er überstanden.

Na ja, die Ecken sind abgestoßen, Farbe hat er verloren, aber der Griff ist noch tadellos. Die Schlösser sind leicht angerostet, doch sie schnappen einwandfrei zurück. Ich lausche dem Klang, und vor meinen Augen steht Mutti über den Koffer gebeugt, sie holt ein Messer heraus und einen Kanten Brot und versucht für jeden von uns ein Stück davon abzuschneiden. Hungrig nehmen wir das hartgefrorene Stückchen in unsere Kinderhände - wärmen es ein wenig. Doch der Hunger ist zu groß, gierig kauen wir darauf herum, bis es langsam im Mund auftaut und die Brotkrümel nacheinander in den Mägen verschwinden.

Was war das für eine schlimme Zeit, als der Koffer nichts mehr hergab - für den allzu großen Hunger! Wir klopften unterwegs dann an fremde Türen und bettelten. Es war einfach schrecklich, was habe ich mich geschämt! Schlimmer noch, wenn wir davon gejagt wurden.

Beinahe hätten wir den Koffer in Dresden verloren - darin war doch alles was wir noch besaßen, viel war es ja nicht mehr.

Nach vielen Tagen auf unserem Fluchtweg stand unser Zug, vollgepackt mit Flüchtlingen, unterwegs viel auf freien Strecken stehend, viel hin- und herrangierend, auch kohle- und wasserfassend von Tieffliegern beschossen, endlich im Dresdener Bahnhof.

Es war der Schicksalstag von Dresden, der Abend des 13. Februar 1945! Plötzlich heulten die Sirenen und wir mußten unseren schwer umkämpften Platz im Eisenbahnwaggon verlassen. Ein heilloses Durcheinander entstand, alles schrie, rannte in großer Angst auf den Bahnsteigen umher. Mutti nahm meine kleine Schwester auf den Arm, mich festpackend an die Hand, und dann wurden wir von der sich zusammenballenden Menschenmenge mitgeschoben. Auf einmal das Bewußtsein: der Koffer ist weg!

Ich löste mich von der Hand, rannte zurück und fand tatsächlich den Koffer in einer Ecke auf dem Erdboden des Wartesaals liegen. Schnell raus hier, runter vom Bahnhofsgelände. "Lauft runter zu den Elbwiesen, die Tommys kommen, hier ist kein Mensch mehr sicher", riefen uns die Eisenbahner zu.

Jetzt brach die Panik vollends aus. Alles stürmte wie besessen den Ausgängen zu und den Flüchtenden hinterher - aber wo war der Weg zu den Elbwiesen?

Mit großer und übermenschlicher Anstrengung schafften wir es unter einem Torbogen Unterschlupf zu finden, nur um Atem zu holen. Schon waren die Bomberverbände da. Sie kamen wie große, dunkle, unheilverheißende Vogelschwärme mit entsetzlichem Motorengebrumm - sie waren überall. In der Dunkelheit ließen sie ihre tödliche Fracht fallen, Schlag auf Schlag, auf Dresdens Zivilbevölkerung, in ihre Wohngebiete, auf Straßen, die vollgestopft waren mit Flüchtlingen aus allen Himmelsrichtungen. Die Erde bebte, der Himmel wurde blutrot von dem Feuer, es loderte und knisterte, und es schien, als würde es nie ein Ende geben.

Menschen rannten aus ihren getroffenen Häusern wie brennende Fackeln, irrsinnig schreiend durch die qualmenden Straßen. Aus den Ruinen und ihren Fensterhöhlen schlugen meterhohe Flammen, sie waren von einigen Phosphorbomben getroffen worden und brachen dann krachend und stöhnend zusammen.

"Geh' in die Hocke, lege deinen Kopf auf die Knie und atme ganz flach durch deinen Schal, wir müssen es schaffen bis dort in die Ecke, bleib ganz dicht bei mir, wir dürfen uns nicht verlieren!" Meine Mutter schrie es mir andauernd zu, ich konnte es durch das Bersten und Krachen und den Feuersturm nur schwach verstehen.

Ich hatte keine Gedanken mehr, ich hatte nur noch Angst, furchtbare Angst. Entsetzt schrie ich auf, als unter unseren Füßen der Boden erzitterte. Dicht neben uns war eine Brandbombe in das nächststehende Haus gefallen. Wir klammerten uns an Mutti fest, wir waren wie versteinert - unsere Nerven zum Zerreißen gespannt. Wo war das rettende Ziel zu finden?

Auf den Straßen hüpften die Phosphorflammen und der Teerbeleg schmolz, an den Häuserwänden züngelten sie entlang, fraßen sich in das Mauerwerk, und wir liefen um unser Leben!

Es gab keinen anderen Ausweg, nur schnell zu den Elbwiesen runter. Aber auch dort war alles schon voller Menschen, voller Trecks mit Flüchtlingen, alles was sich bis dorthin gerettet hatte.

Wo nur hin, wo sollten wir bleiben, wo war noch ein Platz für uns! Und dann kamen noch die Tiefflieger, die mit ihren Bordwaffen mitten in die vor Angst schutzsuchenden Menschenmenge schossen.

Wir müssen von hier weg, raus aus dieser Falle, wir müssen zurück zum Bahnhof - Mutti war wie von Sinnen und machte eine Kehrtwendung, um aus diesem Hexenkessel zu entkommen. Ich war starr vor Angst und blind vor Tränen, ich hatte keine Kraft mehr und wollte auch nicht mehr weiter.

"Komm lauf noch ein Stück-chen und noch ein Stückchen, wir müssen hier weg, wir dürfen nicht schlappmachen", Mutti sprach andauernd auf mich ein, ich mußte tapfer sein, ich mußte gehorchen, ich mußte weiter, ich mußte .... ich durfte Mutti keinen noch größeren Kummer machen, denn der war schon groß genug, und ich fürchtete, sie in diesem unbeschreiblichen Chaos zu verlieren.

Die nächtliche Dunkelheit war erhellt vom brandroten Feuerschein, und wir tasteten uns langsam über Trümmer, Geröll und Schutthalden, die noch glommen, überschüttet von großen Wolken Feuerfunken.

Die Straßenbiegungen waren noch ungefähr zu erkennen. Aber wo sollten wir den Weg zum Bahnhof finden? Vor lauter zusammenstürzenden Häusern, Qualm, Rauch, Ruß und Trümmerstaub sahen wir fast nichts mehr und unsere Kraft ging langsam zu Ende.

Krampfhaft hielt ich mich am Mantelsaum meiner Mutter fest. Meine kleine Schwester saß im Rucksack hinten auf Mutters Rücken und hielt sich am Mantelkragen fest. Meine arme Mutter, was für eine Last für sie, aber nur sie konnte und mußte den Weg aus diesem fürchterlichen Inferno finden.

Fast durchgedreht, innerlich wie zerbrochen, unendlich müde und zerschlagen, gelangten wir nach vielen Stunden und Irrwegen doch noch irgendwie zu den Gleisen, fanden einen Zugwaggon - krochen mit allerletzter Kraft hinein. Uns war jetzt alles egal, was nun noch passieren würde, nach dieser mörderischen Flucht aus Ostpreußen und diesem Bombenangriff, der Dresden in Schutt und Asche legte ... wir hatten keine Hoffnung mehr!

Den Koffer hatte Mutti mir inzwischen mit ein paar gefundenen Stricken auf den Rücken gebunden, damit er nicht mehr verloren ginge. Jetzt lag meine kleine Schwester mit ihrem Kopf darauf, sie zitterte am ganzen Körper, sie weinte vor Hunger und Durst, sie wimmerte vor Erschöpfung. Ihre Tränen bahnten sich Wege durch das rußgeschwärzte Gesichtchen, und ich sah, sie hatte keine Wimpern mehr, keine Augenbrauen. Da, wo die Wollmütze nach hinten auf den Kopf gerutscht war, waren auch keine Haare mehr zu sehen. Vor Schreck betastete ich mein Gesicht, meinen Kopf - das gleiche Resultat, auch die Zöpfe waren nicht mehr vorhanden. Unsere Mäntel, Wollmützen, Schuhe, Trainingshosen, sowie Schals und Tücher gegen die Kälte, alles war versengt, angekohlt und übersät von Brandlöchern.

Wir waren dieser brennenden Hölle entgangen - wir waren noch mal davongekommen! Und wir hatten uns nicht verloren. Erschöpft hockten wir in einem Winkel des kalten und furchtbar dreckigen Waggons, aber all das machte uns nichts mehr aus.

Mutti umarmte uns, ihre Tränen fielen auf unsere dreckverschmierten Gesichter, sie streichelte uns, tröstete uns mit den Worten - es wird bestimmt wieder alles gut - ich spürte ihre Körperwärme, ihre Nähe, ich wollte glauben, was sie sagte, dann waren wir vor Erschöpfung eingeschlafen.

Irgendwann ruckte der Waggon an, eine Lok war angekoppelt worden, und fuhr dann langsam mit den vielen zusammengewürfelten, entwurzelten Menschen, die sich in dem Waggon inzwischen eingefunden hatten, aus dieser brandgeschwärzten und immer noch feuerlodernden Ruinenstadt - irgendwo hin.

Erschrocken komme ich zu mir, zwei Düsenjäger fliegen mit ohrenbetäubendem Lärm über unser Haus hinweg, und ich spüre, wie ich voller Angst unfähig bin, mich zu rühren. Eben war ich doch noch in Dresden, habe alles noch einmal erlebt und deutlich vor mir gesehen - dieses Grauen, diese Zerstörung, dieses unendliche Leid der Menschen, die das alles erleiden mußten. Und warum und wofür? Weil größenwahnsinnige Politiker ihre Machtbesessenheit bis zum Irrsinn ausprobieren wollten, und die Welt schon unter sich aufgeteilt hatten.