26.04.2024

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22.03.03 / Drei Schüsse an der Elbe

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 22. März 2003


Drei Schüsse an der Elbe
von Alfred Wenig

Der Krieg war schon fünf Jahre vorbei, der Schlachtenlärm lange verklungen. Von Deutschland war nur ein Trümmerhaufen übriggeblieben. Viele heimatlose Menschen irrten durch die Besatzungszonen auf der Suche nach einer Bleibe und einer neuen Lebensperspektive. So kam auch ich damals in das Elbestädtchen Boizenburg. Dort gab es eine Schiffswerft, auf der Logger für die Sowjetunion gebaut wurden. Obwohl Schiffbau nicht mein Traumberuf war, entschloß ich mich, diese Ausbildung von Grund auf zu durchlaufen. Da ich vorher schon eine Lehre als Elektro-Maschinenbauer begonnen hatte, brauchte ich nur eine 18monatige Umschulung zu machen. Vom Wohnungsamt wurde mir in Werftnähe ein Zimmer zugewiesen, und so konnte die Umwandlung eines ermländischen Bauernsohnes zum Stahlschiffbauer beginnen.

Frühmorgens, wenn zum ersten Mal die Werftsirene ertönte, hieß es für mich aufstehen und fertigmachen für diesen neuen Lebensabschnitt. Nach Katzenwäsche und Minifrühstück ging es dann raus auf die Straße in Richtung Elbewerft. Links und rechts traten Männer und Frauen aus den Haustüren, die sich gleich mir zum Tor der Werft bewegten. Keine Autos, höchstens mal ein Fahrrad unterbrach diesen Menschenstrom.

Die Ausbildung war interessant und gründlich. Langsam machte mir diese Tätigkeit Spaß, zumal ich nach kurzer Zeit schon auf dem Schnürboden arbeiten durfte. Dort wurden die Konstruktionsunterlagen 1:1 für die Fertigung vorbereitet. Für meine Einsatzbereitschaft wurde ich sogar zweimal mit der Aktivistennadel ausgezeichnet. Störend empfand ich, daß die SED überall in das Betriebsgeschehen eingriff, besonders bei Personalentscheidungen. Ich hatte aber ganz andere Sorgen, als mich damit näher auseinanderzusetzen. Wenn Feierabend war, mußte ich mich um meine Ernährung kümmern, denn die Lebensmittelkarte reichte gerade immer bis zur Mitte des Monats. So vergingen Wochen und Monate mit Lernen, Arbeiten und dem Kampf ums Überleben, ständig auf der Suche nach etwas Eßbarem. Dann geschah etwas, das ganz Boizenburg aufweckte.

Es war ein Tag im Hochsommer. Ich hatte mich mit meinem Freund Hans Hermann verabredet, zum Baden an die Elbe zu gehen. Damals war es durchaus noch üblich, in der Elbe, die ja Zonengrenze war, zu baden. Die Grenzposten der Russen nahmen es nicht so genau. Sie schauten gelegentlich auch weg, wenn jemand über die Grenze ging. Als Hans Hermann und ich zur Elbe kamen, waren schon einige Leute im Wasser. Wir gesellten uns dazu und genossen das kühle Naß bei einer Lufttemperatur von über 30 Grad. Nach einer gewissen Zeit kamen wir auf die Idee, unsere Kräfte zu messen und den Fluß zu durchschwimmen. Hans Hermann hatte auch entdeckt, daß auf der anderen Seite schöne Seerosen blühten, die wollten wir pflücken und mitbringen. Wir mußten unsere ganzen Kräfte aufbringen, um gegen die gewaltige Strömung anzukommen. Wir schafften es und gingen an einem Buhnenkopf an Land.

Plötzlich standen zwei Bundesgrenzschutzbeamte vor uns und wunderten sich über unsere Anwesenheit. Wir kamen ins Gespräch und erzählten ihnen, daß wir uns noch in der Ausbildung befanden und auf jeden Fall zurückwollten. Sie boten uns eine Zigarette an (Colli), und genußvoll rauchend setzten wir unser Gespräch fort. Dann erinnerten wir uns wieder an die schönen Seerosen. Wir pflückten einige und dekorierten damit unsere Badehosen. Dann verabschiedeten wir uns von den Beamten und gingen an der Spitze des Buhnenkopfes wieder ins Wasser.

Was wir nicht wußten, war, daß wir schon lange mit dem Fernglas von drüben beobachtet wurden. Wir sahen, daß auf der östlichen Seite Bewegung war. Wir waren mitten im Strom, als drei Schüsse krachten und vor uns in das Wasser einschlugen. Wir tauchten wie auf Kommando und ließen uns ein Stück vom Strom treiben. Es kam uns wie eine Ewigkeit unter Wasser vor. Unser Gehirne arbeiteten fieberhaft; umkehren nach Westen oder zurück nach Osten? Wir tauchten auf und schwammen weiter abwärts zum östlichen Ufer. Wir sahen, wie ein einzelner Vopo sich aus der gaffenden Menge löste und mit angelegtem Karabiner auf uns zukam. Irgendwoher kannten wir diesen Mann. Ohne eine Miene zu verziehen, nahm er uns fest.

Inzwischen waren, wahrscheinlich aufgeschreckt durch die Schüsse, mehrere Polizeifahrzeuge eingetroffen. Wir durften unsere Kleidung über die nasse Badehose ziehen und wurden dann in ein Auto gestoßen, das uns ins Hotel Stadt Hamburg brachte, in dem die Kommandantur der Grenztruppen untergebracht war. Ohne nähere Erklärung hatte man uns in der dunklen Garderobe des Hau- ses eingeschlossen.

Schlotternd vor Kälte und Hunger saßen wir dicht beieinander, als plötzlich die Tür aufgeschlossen wurde. Stunden mußten inzwischen vergangen sein, denn draußen war es stockdunkel. Wir wurden in ein hellerleuchtetes Büro geführt, wo zwei junge Vopo-Offiziere hinter ihren Schreibtischen saßen. Als erstes wurden wir mit Beschimpfungen empfangen: "Ihr Hitlerjungen, wir werden euch schon kirre kriegen."

Nach Feststellung unserer Personalien wurde ich wieder in der Garderobe eingeschlossen. Hans Hermann kam nach einiger Zeit kreidebleich zurück, und ich mußte hinein. "Ihr Freund hat zugegeben, Spionage betrieben und alles an den Bundesgrenzschutz verraten zu haben." Ich war schockiert. Das konnte doch nicht wahr sein! Ich erzählte genau, wie es sich zugetragen hatte. Die Begegnung mit dem Bundesgrenzschutz war vollkommen harmlos, aber das wollten sie nicht wissen. Ich blieb bei der Wahrheit, und so wurden wir abwechselnd verhört und zum Schluß in übelster Weise beschimpft. Dann sagten wir gar nichts mehr. Die beiden Offiziere mit ihrem sächsischen Dialekt hatten uns fix und fertig gemacht. Mir war auch klar, von welcher Schule sie kamen, ihr Wortschatz kam mir sehr bekannt vor.

Draußen dämmerte bereits der Morgen, als wir beide wieder zusammen in unserem Gefängnis saßen. Später hat man uns zur Villa Brumm gebracht (der Tierarzt Dr. Brumm war Besitzer dieser Villa), dem Russengefängnis für aufgegriffene Grenzgänger. Für Hans Hermann und mich war Einzelunterbringung im Keller angeordnet. Zu Mittag holte man uns heraus, gab uns einen großen Essenskübel, und zwei mit Maschinenpistolen bewaffnete Volkspolizisten führten uns in die Stadt zur Volksküche, um essen zu holen. Das war eine Gaudi für unsere Freunde und Bekannten, uns so in dieser Gesellschaft zu sehen, und wir haben uns furchtbar geschämt. Diese Prozedur wiederholte sich auch an den beiden folgenden Tagen. Aber egal, Hauptsache, es gab endlich was zu essen.

Nach diesem Auftritt schlossen sich für uns wieder die Türen unserer Zellen. Durch das Kellerfenster konnte ich die Beine der vorbeigehenden Menschen sehen, die keine Ahnung von unserer Verzweiflung hatten. Erst am späten Abend wurden wir wieder einzeln nach oben geholt und dieses Mal von den Russen verhört. Der Jargon hatte sich geändert. Jetzt waren wir faschistische Banditen und wurden entsprechend behandelt. Die Volkspolizisten saßen unbeteiligt dabei und sagten kein Wort. Da wir immer das gleiche sagten, ließ man bald von uns ab. Nach drei Tagen Einzelhaft schickte man uns in den großen Keller, in dem die harmlosen Grenzgänger festgehalten wurden. Diese kamen meistens nach ein bis zwei Tagen wieder auf freien Fuß. Zwei Tage später wurde Hans Hermann nach oben geholt. Sollte es schon wieder mit den Verhören losgehen? Nach einer halben Stunde mußte auch ich nach oben.

Welch eine Überraschung! Hans Hermann saß mit Ilse, der SED-Sekretärin der Elbewerft, an einem kleinen Tisch und unterhielt sich. Ich wußte, daß Hans Hermann mit Ilse befreundet und ihr zuliebe in die SED eingetreten war. Mir wurde eröffnet, daß Hans Hermann sofort entlassen werde, da er zur Parteischule müsse. Ich sollte weiter im Gefängnis bleiben. Dagegen protestierte mein Freund aufs energischste. Er sagte: "Wenn Alfred nicht rauskommt, dann bleibe ich hier." Alle waren überrascht und schwiegen. Nach einer Weile sagte Ilse: "Wenn du in die SED eintrittst, kommst du selbstverständlich auch raus." Alle Anwesenden stimmten zu. Es wurde ein Formular ausgefüllt und von mir unterschrieben. Dann waren wir frei, aber ich jetzt in einer kommunistischen Partei! Am nächsten Morgen arbeitete ich wieder auf dem Schnürboden, als ob nichts gewesen wäre.

Was mir vorher nie aufgefallen war, täglich gingen Leute in den Westen und kamen nicht wieder. Auch Hans Hermann verließ nach seiner Facharbeiterprüfung die Ostzone. Ich bestand meine Prüfung mit "sehr gut" und als Kreisbester, aber ich konnte mich nach alledem, was geschehen war, nicht darüber freuen. Ich besuchte noch die Betriebsfachschule in Stralsund/Franzburg, um beruflich weiterzukommen. Wieder in Boizenburg wurde ich als Lehrlingsausbilder und Fachschullehrer eingesetzt. Die von mir erwartete politische Arbeit ignorierte ich.

Dann kam der Tag, an dem ich ins Parteibüro gerufen wurde, wo man mir eröffnete, daß mein Platz nicht mehr im "Volkseigenen Betrieb", sondern bei der Volksarmee sei. Dem habe ich nicht zustimmen können. Man nahm mir das auf so makabre Weise erworbene Parteibuch ab, und grußlos konnte ich den Raum verlassen. Meine Reaktion konnte nur sein: nichts wie weg von hier. Bei Nacht und Nebel verließ ich die DDR und ging in den Westen. Noch heute denke ich manchmal: Was wäre aus mir geworden, wäre Ilse nicht gekommen?

Elbe-Werft Boizenburg im Jahr 1950: Eine fröhliche Mannschaft (rechts außen Alfred Weng) Foto: privat