19.04.2024

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29.03.03 / In Schillen verlor ich meine Kindheit

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 29. März 2003


In Schillen verlor ich meine Kindheit
Helmut Samoleit berichtet von seiner Zwangsarbeit als Jugendlicher auf der Militärsowchose 20

In Hohensalzburg im Kreis Tilsit-Ragnit verlebte ich bis zu meinem elften Lebensjahr eine glückliche Kindheit. Dann kam das Jahr 1944. Es brachte nichts Gutes. Mutter starb, Vater war an der Front, und ich mußte zu meiner Tante nach Berghang.

Kurz darauf, im Herbst des selben Jahres, ging es auf die Flucht. Unser Treck zog wochenlang durch Ostpreußen und wurde schließlich von den Russen überrollt. Die Russen gaben den Befehl: Damoi, nach Haus! Auf dem Bahnhof Schlobitten bestiegen wir an einem Maientag des Jahres 1945 einen Güterzug, der mit erbeuteten Eisenbahnschienen beladen war, und kamen bis zum Bahnhof Schillen. Von hier aus zogen wir zu Fuß nach Berghang zum Hof meiner Tante. Die Gegend war gespenstisch. Kein Lebewesen war weit und breit zu sehen. Dörfer und Höfe waren leer. Auch in Berghang keine Menschen, keine Kühe, keine Hühner. Aber die Scheunen und Mieten waren noch voller Kartoffeln und Rüben von der vorjährigen Ernte und auf den Feldern stand die Herbstsaat. So überstanden wir notdürftig den Winter, immer in der Ungewißheit, wie es weitergehen soll.

Dann, im Februar 1946, kamen Soldaten und verluden uns auf Lastkraftwagen. Sie brachten uns nach Schillen, wo bereits Deutsche aus anderen Dörfern zusammengeholt waren. Es begann ein strenges Arbeitsreglement. Alle Arbeitsfähigen wurden auf den Feldern der Sowchose eingesetzt. Wer arbeitete, bekam 600 Gramm Bot am Tag. Kinder und Nichtarbeitende erhielten nur 200 Gramm. Hin und wieder wurden Grütze, Öl und Salz ausgeteilt.

Wir lebten wie auf dem Mond, kein Radio, keine Zeitung, kein Kalender, keine Uhrzeit. Die einzige Uhr besaß der deutsche Brigadier, Herr Guddat. Jeden Morgen schlug er mit dem Hammer an eine Sauerstofflasche und weckte. Nach kurzer Zeit erklang ein weiterer Hammerschlagton. Das bedeutete "Einfinden auf dem Wirtschaftshof zur Arbeitseinteilung".

Mit meinen 13 Jahren diente ich als Kutscher des Sowchosenchefs, Kapitän Jebilenko. Später wurde ich Pferdepfleger im Veterinärstall und Hütejunge einer Jungviehherde von 120 Kälbern. Das war nicht einfach, besonders im Sommer, wenn Gewitter heranzog. Dann nahmen die Kühe Reißaus und brachten sich im Stall in Sicherheit. Im Jahre 1947 nahm mich Schmiedemeister Deluweit zu sich in die Sowchos-Schmiede, die neben der Molkerei Dyck war. Hier habe ich viel gelernt und wurde "Spezialist" für die Reparatur von Landmaschinen. Rund um den Bahnhof Schillen lagerten Unmengen von landwirtschaftlichen Maschinen und Geräten, die aus den umliegenden Dörfern und Gütern zusammengeschleppt waren und offensichtlich auf den Abtransport warteten. Das erwies sich als Fundgrube für unsere Reparaturarbeiten. Mit Schraubenschlüssel, Hammer und Meißel ausgerüstet, besorgte ich alle erforderlichen Ersatzteile. Die Molkerei Dyck war noch in Betrieb. Wenn dort Reparaturen anfielen, gab es als Lohn fette Milch, Glumse und Schmand.

Ab dem Jahr 1948 wurde in Rubel entlohnt. Je nach Arbeitsleistung gab es 25 bis 30 Rubel im Monat. Nun konnte man sich im Magazin zwar etwas kaufen, aber die Preise waren hoch. Ein Kastenbrot kostete sieben Rubel, ein Pfund Butter 25 Rubel. Um zu überleben, holten wir uns Gemüse und Korn von den Feldern und Lagern. Bei diesen Streifzügen fanden wir in verlassenen Bauernhöfen manchmal Äxte, Sägen und anderes Werkzeug. Das waren wertvolle Tauschobjekte. Ein paarmal fuhr ich vom Bahnhof Schillen mit dem Zug nach Tilsit zum Schwarzen Markt, wo die Werkzeuge gegen Butter, Eier und andere Lebensmittel eingetauscht wurden. Viele Litauer verkauften und tauschten dort ihre Produkte.

In den Wintermonaten, wenn die Feldarbeit ruhte, mußten wir Jugendlichen in die Schule gehen. Der Unterricht war in Russisch, und wir lernten in der uns fremden Sprache Lesen und Schreiben wie im ersten Schuljahr. Mehrmals besuchte ich meinen Heimatort Hohensalzburg. Mein Elternhaus, meine Schule, die Molkerei Walther, der Gasthof Benno Hutzi - alles stand noch. Voller Entsetzen sah ich, daß in die Kirche zwei riesige Betonsilos gemauert waren, die mit Sauerkraut gefüllt waren.

Es kam der Oktober 1948, als alle Deutschen aus der Militärsowchose Schillen auf Schlitten und Lastwagen verladen und mit kleinem Handgepäck und Verpflegung für drei Tage nach Königsberg gebracht wurden. Nach Registratur und gründlicher Zählung ging es durch ein schmales Tor zu den Güterwaggons. Sie wurden mit je 40 Menschen belegt. Endlich ging die Reise los. Wir verließen unsere Heimat, in der wir zu Fremden geworden waren. Die lange Bahnfahrt endete im Auffanglager Kirchmöser bei Brandenburg an der Havel. Ich war nun 15 Jahre alt. Es begann ein neuer Lebensabschnitt.