29.03.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
05.04.03 / Dunkles Gestern / Lebensbornkind sucht nach seiner Biographie

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 05. April 2003


Dunkles Gestern / Lebensbornkind sucht nach seiner Biographie

Die langsame Entdeckung der eigenen Biographie - ein Lebensborn-Schicksal" lautet der Titelzusatz des Buches von Gisela Heidenreich. Lebensborn? Waren das nicht die "arischen Zuchtanstalten" der Nazis? Wer zuviel in der Boulevard-Presse gelesen hat, kennt diese reißerische Behauptung, Gisela Heidenreich belegt jedoch, daß die Aufgaben der Organisation Lebensborn anders geartet waren, als es viele gerne sehen würden. Die Autorin wurde selbst 1943 in einem Lebensbornheim in Oslo geboren und beginnt ihre Biographie mit Erinnerungen an die gemeinsame Reise mit ihrer greisen Mutter nach Norwegen. Der Beginn des Buches "Das endlose Jahr" ist somit ziemlich langatmig, denn Mutter und Tochter stehen irgendwo in einem norwegischen Dorf und suchen das einstige Heim. Doch schon hier wird deutlich, daß Mutter und Tochter nicht dasselbe Ziel haben. Auf dieser Reise äußert die Mutter widersprüchliche Erinnerungen, die ihre Tochter verwirren. Diese will doch nur erfahren, wo sie geboren wurde, und ihre Mutter scheint alles zu tun, um so wenig wie möglich von damals preiszugeben. Nach dem Reisebericht kommt es zum Bruch in der Geschichte.

Plötzlich schreiben wir 1995, und Gisela Heidenreich nimmt einen Anruf bei sich zu Hause entgegen. Es ist ein Herr, der ihre Mutter sprechen will. Sein Vater war 1944 am Attentat auf Hitler beteiligt und wurde verhaftet; er und seine Geschwister wurden auseinandergerissen. Gisela Heidenreichs Mutter soll die Adoption geregelt haben, die in diesem Fall nichts anderem als einer Kindesentführung gleichkam. Nun braucht er die Hilfe der alten Dame, um seine wirklichen Eltern zu finden. Gisela Heidenreich ist schokkiert, fragt ihre Mutter abermals nach ihren Aufgaben bei Lebensborn, doch diese behauptet, er sei nur eine soziale Einrichtung gewesen und sie habe nichts Falsches getan. Trotz der Beteuerungen der Mutter glaubt die Tochter ihr nicht und beginnt selber nachzuforschen. Zu viele Lügen hat ihr die Mutter im Laufe ihres eigenen Lebens schon als Wahrheit verkauft. Wieso war ihre Mutter schließlich erst ihre Tante? Ist ihr Vater ein in Rußland vermißter Soldat oder ein ehemaliger hoher SS-Offizier? Wieso mußte ihre Mutter bei den Nürnberger Prozessen aussagen? Was war die wirkliche Aufgabe der Organisation Lebensborn?

Spannend und eindringlich schildert die heute 60jährige die Suche nach ihrer Herkunft und der Vergangenheit ihrer Mutter. Diese stemmt sich allen Nachforschungen ihrer Tochter entgegen und hinterläßt damit den Eindruck, wirklich etwas zu verbergen zu haben.

"Das endlose Jahr" beschreibt einen bisher literarisch wenig bearbeiteten Aspekt der Vergangenheitsbewältigung. Welche Funktion hatten speziell die eigenen Eltern und Großeltern während der NS-Zeit? Waren sie nur Mitläufer, gar Widerständler oder vielleicht sogar Täter? Gisela Heidenreich schildert ihre Zerrissenheit zwischen Mutter- und Wahrheitsliebe in einer nachvollziehbaren Tiefe. Die praktizierende Familientherapeutin hat mit ihrem neuesten Buch ein sprachlich und psychologisch höchst bemerkenswertes Werk über den Konflikt der Nachkriegsgenerationen zu ihrer Elterngeneration vorgelegt. Eindrucksvoll! R. Bellano

Gisela Heidenreich: "Das endlose Jahr", Scherz, München 2002, geb., 320 Seiten, 19,90 Euro