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05.04.03 / Farin und Glumse

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 05. April 2003


Farin und Glumse
von Heinz Kurt Kays

Ab und zu soll es schon vorgekommen sein, daß ein Mensch, der aus einer völlig anderen Gegend stammte, nach Masuren verschlagen wurde. Manchmal, freilich nur äußerst selten, geschah dies gar mit einer Frau. Und wohl nur ein einziges Mal überhaupt gelangte eine solche Person bis nach Malschöwen am gleichnamigen See. Beides, Ort wie Gewässer, lagen sozusagen "hinten, weit in der Türkei" - um mit Goethe zu sprechen. Konkret hieß das im hier anstehenden Fall: im Kreise Ortelsburg, fast unmittelbar an der Grenze zum Polnischen.

Dieses Malschöwen, zunächst nur ein Marktflecken, erhielt späterhin gar die Stadtrechte. Dennoch, mehr als so um die zweitausendfünfhundert Einwohner hat es dort nie gegeben. Einer davon war der Konrad Buttgereit, welcher das betrieb, was man heutzutage einen "Tante-Emma-Laden" zu nennen pflegt. Er hatte ihn in dem von seinen Eltern geerbten Häuschen an der Kaiser-Wilhelm-Straße eingerichtet, die man in einem Anfall von Großspurigkeit als Hauptverkehrsader von Malschöwen bezeichnen konnte.

Das war mit einer der Gründe, warum das Geschäft des Ladenbesitzers Konrad Buttgereit nicht schlecht lief. Es ging ganz im Gegenteil so gut, daß es sich der Inhaber beispielsweise erlauben konnte, in einem schönen Sommer für drei oder vier Wochen "ins Reich" zu fahren, und zwar in das Ruhrgebiet. Dort, vielleicht in Castrop-Rauxel oder auch in Wanne-Eickel, lebte nämlich sein Bruder Gustav. Der hatte - wie so manch anderer Bewohner Masurens - sein berufliches Fortkommen im Bergbau gesucht und wohl auch gefunden.

Diese Besuchsreise des Konrad Buttgereit nun gab den Anstoß für die folgende kleine Geschichte. Im Lande an Rhein und Ruhr lernte er nämlich ein Fräulein Annemarie Schmitz kennen. Nein, er lernte sie nicht nur kennen, er verliebte sich auch unsterblich in sie. Und die Marjell aus dem fernen Westen verguckte sich ebenso in den jungen Mann aus Masuren. Was natürlicherweise zur Folge hatte, daß sich die Einwohnerschaft von Malschöwen um eine "Person weiblichen Geschlechts" vermehrte, wie es damals im Behördendeutsch hieß.

Bis es soweit war, verging allerdings noch einige Zeit. Doch auf die bei solcher Gelegenheit erforderlichen Präluminarien muß hier nicht eingegangen werden. Es ist lediglich zu berichten, daß der Einzelhandelskaufmann Konrad Buttgereit knapp sechs Monate später erneut gen Westen fuhr und anschließend zusammen mit seiner ihm frisch angetrauten Ehefrau, die er zärtlich "Annemiechen" nannte, heimkehrte nach Malschöwen. Was zu einem großen Andrang in seinem Geschäftslokal führte, denn jedermann wollte selbstverständlich die fremde Marjell sehen und begutachten.

Und das war ohne Schwierigkeiten möglich, denn die geborene Schmitz aus dem fernen Rheinland stand bald von früh bis spät hinter der Tonbank und bediente die Kundschaft. Sie bot übrigens einen durchaus erfreulichen Anblick in ihrem blütenweißen Kittel, der sich an den richtigen Stellen bauschte, und mit dem krausen Blondhaar, welches ihr frisches Gesicht umrahmte. Die Lehrersfrau Urbannek, die für diese Fragen als oberste Autorität galt, urteilte jedenfalls so: "Geschmack hat er gehabt, der Konrad. Hätt' ich ihm nicht zugetraut, dem Lorbaß."

Sie war also eigentlich ganz gut eingeführt in Malschöwen, diese Annemarie. Aber, wie das so ist im wirklichen Leben, es tauchten auch gewisse Schwierigkeiten auf. Denn es gab doch beträchtliche Unterschiede zwischen dem äußersten Westen und dem tiefsten Osten. Das galt zum Exempel etwa für die Sprache, wie sich alsbald erweisen sollte. Denn im Laden von Konrad Buttgereit erschien eines Tages die Postobersekretärswitwe Amanda Kuballa, ein schon etwas angejahrtes Frauchen.

Diese Madam verlangte das und jenes, von allem nur ein wenig, denn wenn man alleinstehend ist, braucht man nicht viel. Sie wur- de von Annemiechen dennoch freundlich und aufmerksam bedient.

Schließlich schien die Kundin alles beieinander zu haben und griff zum Geldbeutel, als ihr doch noch etwas einfiel. "Ach ja", sagte Frau Kuballa, "beinah hätte ich es vergessen. Ein Pfundchen Farin tät' ich noch brauchen."

Annemarie Buttgereit, bekanntlich frisch importiert nach Malschöwen, blickte etwas ratlos. "Ein Pfundchen", das konnte sie sich zusammenreimen, das mußte ein halbes Kilo sein. Aber "Farin", was um Himmels willen war Farin? Sie wußte es nicht. Was war da zu tun?

Kurzentschlossen wählte sie den bequemsten Ausweg: "Tut mir leid, Verehrteste, aber Farin ist heute nicht vorrätig."

"Erbarmung", kam es zurück, "wie kann denn das sein, liebe Frau Buttgereit? Hat der Herr Gemahl vergessen, welchen zu bestellen? Dabei brauch' ich dringend ein Pfundchen für meinen Nachmittagskaffee. Ich trink ihn immer mit Schmand und Farin. Wie trinkt man ihn denn im Rheinland? Etwa nur schwarz und bitter?"

"Selbstverständlich nicht", erwiderte Annemiechen. "Zu Hause nehmen wir zum Kaffee stets Sahne und Zucker." Die Postobersekretärswitwe schlug verwundert die Hände über dem Kopf zusammen: "Nu also, was soll man da sagen? Reineweg wie bei mir, immer mit Schmand und Farin. Aber nun muß ich ihn wohl so trinken, wo ich ihn doch nur süß mag. Aber ist ja kein Farin da."

"Momentchen, ganz kleines Momentchen", ging die Kaufmannsgattin dazwischen, denn nun hatte es bei ihr gedämmert. "Ich werd' schnell mal nachschauen im Lager, vielleicht find' ich dort noch was." Sie verschwand und kam nach einigen Minuten lächelnd wieder zurück. "So", sagte sie, "da hab ich tatsächlich noch ein Pfund Farin gefunden."

Zufrieden nahm die Kundin die Tüte mit dem Zucker in Empfang, bezahlte ihre Einkäufe und verschwand mit freundlichem Gruß. Annemarie Buttgereit atmete auf, das Problem mit dem "Farin" war gelöst. Doch es dauerte nicht lange, als auch schon ein neues nahte, und zwar in Gestalt der Schustersfrau Gretchen Turowski, der es nach einem Kilo "Glumse" verlangte.

Diesmal entschied sich Annemiechen für den direkten Weg. Sie fragte geradeheraus: "Glumse? Was ist das? Ich bin ja noch ziemlich neu hier in Malschöwen." Gretchen Turowski nickte verständnisinnig und hub an, zu erklären: "Glumse kommt von der Kuh. Wird meist von der Meierei geliefert. Ist weiß und klumpig und schmeckt gut."

"Aha", mutmaßte die Verkäuferin, "das kann nur Dickmilch sein." Doch die Kundin winkte ab: "Nei, nei, bißchen fester noch und krümelig. Man tut meist Schnittlauch rein." Nun wußte Annemarie Buttgereit bescheid: "Dann ist Glumse wohl Quark?" Die Frau Turowski bejahte erleichtert, und damit war auch dies geklärt.

Sie lernte schnell, die Marjell, die aus dem Ruhrpott gekommen war, oder aus dem Rheinland. So genau kannte man sich damit nicht aus in Malschöwen, es war ja auch ziemlich egal. Jedenfalls, als der Stallknecht Ludwig Bendul im Laden erschien und vor sich hin brummelte: "Knaster for min Piep", da langte sie sofort und ohne zu zögern nach einer der blauen Spitzentüten, in denen der damals vorwiegend aus den Rippen der Tabaksblätter gefertigte Krüllschnitt abgepackt war.

Natürlich gab es immer wieder kleinere Rückschläge. Als etwa Oma Majewski aus dem Nachbarhaus ein Päckchen Kümmel verlangte, weil sie diesen an ihren "Kumst" tun wollte, war es freilich relativ einfach. Sie bekam sofort das Gewünschte. Und was das ominöse "Kumst" bedeutete, danach erkundigte sie sich bei ihrem masurischen Ehegatten und erfuhr so, daß es sich dabei um nichts anderes handelte als um den beliebten Weißkohl.

Den kochte Annemiechen bald darauf zum Mittagbrot und tat auch gut Kümmel daran, so daß er ihrem Konrad wohl schmeckte. Er leckte sich jedenfalls anschließend zufrieden die Lippen und äußerte den Wunsch, demnächst "Flinsen" auf dem Tisch vorzufinden. Und als sein Frauchen verständnislos dreinschaute, da sagte er nur: "Schon gut, ich laß sie von Oma Majewski machen. Die kann sowieso niemand so gut wie sie."

Und so geschah es. Als die Flinsen tatsächlich serviert wurden, lachte die Hausfrau laut heraus. "Aber mein Guter", verkündete sie, "dazu hätten wir keine fremde Hilfe gebraucht. Die kann ich genauso, vielleicht noch besser. Du hättest nur sagen müssen, was diese Flinsen sind. Denn die kennen wir auch, nur sagen wir Reibekuchen dazu." Gerade auf dem in Masuren so wichtig genommenen kulinarischen Gebiet machte die zugereiste Frau Buttgereit rasche Fortschritte. Wie die Reibekuchen, die ja auch Kartoffelpuffer genannt werden konnten, waren ihr bald auch die allseits gerühmten Königsberger Klopse geläufig, schön mit Kapern und weißer Soße. Nun lernte sie, saure Fleck zuzubereiten, und ebenso süße Keilchen. Selbst die in Fett herausgebackenen Raderkuchen zum Sonntagnachmittagskaffee gerieten ihr schließlich hervorragend.

Ihr Mann war es wohl zufrieden und nahm mählich an Umfang wie Gewicht zu. Und Annemiechen erfreute sich deshalb in Malschöwen eines durchaus guten Rufs. Völlig anerkannt wurde die junge Frau Buttgereit als Einheimische aber erst, als sie das vielgebrauchte Wort "Erbarmung" zur richtigen Gelegenheit und in der sozusagen korrekten Tonfolge anzuwenden verstand. Was sich etwa so anhörte: "Errrbaarrmung!" Das - freilich - dauerte noch eine ganze Weile. Und zwar exakt bis zur dritten Niederkunft von Annemiechen aus dem Rheinland. Da entschlüpfte ihr dieses Wort, als ihr die Hebamme freundlich lächelnd mitteilte, daß Meister Adebar diesmal gleich ein Zwillingspärchen durch den Schornstein geschmissen hatte.

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