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03.05.03 / Doch nur Kleinigkeiten

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 03. Mai 2003


Doch nur Kleinigkeiten
von Esther Knorr-Anders

Leicht ließen sich Buchseiten füllen über Hotels, die ich wieder aufsuchen werde. Doch es gibt Unterkünfte, an die man sich mit Grausen erinnert. Vergleichsweise harmlos ist es, wenn Kühlanlagen durch die Nacht dröhnen. Es war das erste und letzte Mal, daß ich in einem Haus "mit eigener Metzgerei" logierte. In einem gut beleumundeten Gasthof konnte erst ab 10 Uhr gefrühstückt werden, weil am Abend zuvor ein Fußballspiel übertragen worden war. Im Aufenthaltsraum eines eleganten Sporthotels wurde den arglosen Gästen Licht und Fernsehen ab 22 Uhr vorenthalten. Inhaber und Personal wollten zur Ruhe gehen. Keinesfalls sollte man über ein Bettlaken krabbelnde Ameisen ihres Lebens berauben. Der Wirt glaubt die Sisyphus-Arbeit nicht. Daß selbst in Nobel- häusern die Raumpflegerin oft nicht vor 15 Uhr erscheint, weiß jeder, der viel reist. Was also könnte Hoteliers in Groß- und Kleinstädten noch einfallen, um den individuellen Zauber ihres Hauses dem Gast vor Augen zu führen? Einiges!

Über dem "ruhigsten Hotel am See, mit modernstem Komfort und einem herrlichen Park" blaute ein Frühlingsmorgen. Ich durchquerte die Bar, den Salon, passierte das Frühstückszimmer. Zwei Hotel-Eleven deckten die Tische. Sie kicherten. Ich trat auf die Terrasse. Keine Wolke verfinsterte den See. Ein gewundener Pfad führte zum Haus empor. Hotelgäste spazierten herauf. Zumeist waren es ältere Leute; zahlreiche Engländer und jüdische Bürger aus Übersee, die ihr Heimatland besuchten. Dem Zug voran stapfte Mister M. aus London. Seinem Gebaren nach sicherte er den Weg vor Feinden. Er lief ein paar Schritte voraus, blickte hinter Büsche, winkte der Gruppe. Sie folgte. Mancher hielt ein Päck-chen in der Hand. Tütenzipfel schauten aus Taschen. Ich kicherte. Ging ins Frühstückszimmer.

Mein Tischgefährte hatte sich eingefunden. Er nieste. "Ein Eiskeller war die Bar gestern abend. Wäre nicht soviel gezecht worden, wir hätten uns alle die Pocken geholt." Ich wollte Zweifel anmelden, ob die Pocken den Erkältungskrankheiten zuzurechnen seien, doch Mister M. und Gefolge traten ein. "Guten Morgen", bellte er die Eleven an. Die Gäste nahmen ihre Plätze ein. Mister M. ließ sich am Nebentisch nieder. Einer nach dem anderen ergriff ein Brötchen. Drückte es. Legte es erschro-cken zurück. "Zement", murmelte einer.

Ich zog die Folie der Butterportion auf. Ranzig, wie gestern. "Ob ich einen Camembert bestelle? Ich kann die Quittenmarmelade nicht mehr sehen", flüsterte mein Tischgefährte. Mister M. klopfte das Ei auf. Das heißt, er hieb mit dem Löffel auf die Schale ein.

"Herbert", brüllte er.

Der Eleve schoß zum Tisch.

"Sir?" schnaufte er.

"Wollt ihr euren Gästen den Garaus machen? Steckt ihr mit den Krankenkassen unter einer Decke? Das Fleisch in diesem Haus duldet kein Messer. Das Brötchen duldet keinen Zahn. Das Ei ist brillanthart. Bringen sie es der Köchin. Sie möge sehen, wie sie es weich bekommt."

Der Camembert wurde serviert. Ein Salatblatt bedeckte ihn. Mein Tischgefährte starrte es an.

"Sie sind mittags nie hier! Wo essen sie?" fragte er unruhig.

"In einem Restaurant am See. Fünfzehn Minuten durch tiefen Wald. Freilaufende Hunde werden in dieser Region erschossen."

"Können wir das zusammen unternehmen?" - "Hunde erschießen?"- "Nein, essen." Er legte das Blatt zur Seite. Eine grünliche Camembert-Hälfte bot sich dem Blick. Sie leistete dem Messer Widerstand. Verschwand vom Teller. Auf dem Teppichboden hatte sie sich plaziert. Die Eleven kicherten. Mister M. hüstelte. Er öffnete eine Tüte. Entnahm ihr Brötchen und Wurst. Gemessen folgten weitere Anwesende seinem Beispiel. Zarte Schinkenscheiben wurden dem Papier entnommen. Meinerseits ließ ich die in Herrgottsfrühe erworbene Butter auf den Teller gleiten. Mister M. wandte sich meinem Nachbarn zu: "Junger Mann, Sie sollten sich unserem allmorgendlichen Spaziergang anschließen. Dies ist ein gesegneter Ort. Er verfügt über vorzügliche Feinkostgeschäfte."

*

Das Hotel stand an einer der schönsten Straßen Deutschlands. Selbstverständlich nannte es sich "Komforthotel". Reklame blinkte in die Nacht. Der Eingang befand sich zwischen Schaufensterfluchten. Eine steile Treppe führte in den ersten Stock. In der Empfangskabine döste ein Mann. Als ich den Namen nannte, hob er einen Schlüssel vom Brett. "Unterm Dach. Wir hatten nichts weiter frei. Bei Kongressen sind sämtliche Hotels belegt. Dies ist ein altes Haus. Sie werden das Zimmer schon finden."

Einen endlos wirkenden Schlauch ging es entlang. Teppiche erstickten jeden Tritt. Kühltruhen standen an der Wand, Bierkästen. Streichhölzer lagen herum. Der anschließende Raum war mit Sesseln, Sofas und Kunstblumen vollgestopft. Ich entdeckte eine Tür. Sie führte in den von trüben Lampen beleuchteten Treppenschacht. Über Tabletts und Gläser, Staubsauger und Reinigungsmittel hinwegtretend, stieg ich von Stock-werk zu Stockwerk. Oben versperrte eine Eisentür den Weg. Hinter ihr vermutete ich die Zimmer. Das traf zu. Noch eine Ecke, wieder ein Winkel. Ich schloß auf. Von Bett und Kleiderständer blätterte die Farbe. Es gab ein Handwaschbecken und einen Plastikbecher. "60 Mark!" Ich klinkte das Fenster auf. Mauern schoben sich heran. Im Ernstfall kam hier keiner raus.

Plötzlich fühlte ich mich beobachtet. Wandte mich um. Ein Orientale blickte ins Zimmer. Er hielt ein Kissen und eine Decke in der Hand. "Good night", wünschte er und verschwand. Ich riß Mantel und Tasche an mich. Lief zur Treppe. Ruhig stieg der Fremde hinab. Ich verfolgte seine Hand auf dem Treppengeländer. Als sie nicht mehr zu sehen war, begann auch ich den Abstieg. Egal wo ich einen Ruheplatz auftreiben würde - im Dachgeschoß, umgeben von Brandmauern und Schächten, blieb ich nicht.

Am Empfang hatte die Besetzung gewechselt. Einem Ausländer oblag der Nachtdienst.

"Geben Sie mir ein Glas Wein,"

"Darf kein Glas verkaufen, Madame; halbe Flasche, 14 Mark."

Ich fragte: "Falls Feuer ausbricht, wie kommt man von oben runter?"

"Bin da, die ganze Nacht. Viele Gäste haben Angst. Schlechte Nerven. Schlafen in Salon, in Sessel. Besser Sie auch ..."

Er brachte mich in den Salon. Das war der Raum mit der Kunststoffblumenwildnis. Allein war ich nicht. Der Orientale schlummerte in einem Ohrensessel. Auf einem Sofa kauerte ein junges Paar. Auch ich suchte mir einen Platz. Zog den Mantel über die Knie. Glitt in jenen Dämmerschlaf, der das leiseste Geräusch wahrzunehmen erlaubt.

*

Jeder hat jeden Tag andere Nerven. Diesmal fühlte ich mich bestens gewappnet, Hotelabenteuer zu überstehen. Daß Abenteuerliches vorfallen würde, verriet mir die Tür, vor der ich wartete. Das Hotel umfaßte die 1. Etage eines großbürgerlichen Hauses. "Vornehme Lage, bildschön restauriertes Gebäude, absolut ruhig", war mir telefonisch versichert worden. Das mochte alles zutreffen, nur blieb die Paradiespforte verschlossen. Ich drückte erneut den Messingknopf. Schlurfende Schritte näherten sich. Sie oder er mußte am Spion stehen. Schlüssel klapperten. Eine betagte Frau im Morgenrock, Pantoffel an den Füßen, Wickel im Haar, äugte mich an. Wer fürchtet sich vor wem, dachte ich. Sie bat mit, einzutreten. Es war eine riesige Wohnung. Viel Stuck, Flügeltüren. Gemälde über Gemälde. Pflanzen. Ein Papagei kreischte. Sie zeigte mir das Zimmer. Geräumig, hell. Großflächige Waschgelegenheit, Telefon. "Der Apparat ist kaputt. Sie können meinen benutzen. An der Rezeption."

Kleinigkeiten sollten mir nicht die Laune verderben. Ich drehte den Warmwasserhahn auf. Hielt die Hände unter den Strahl. "Eisig", stellte ich fest. "Das ist ja furchtbar", sagte sie. Kleinigkeiten sollten mir nicht ... Ob das Badezimmer Warmwasser habe? Ein Bad befände sich doch auf der Etage?

"Natürlich. Sie können aber nicht rein. In der Wanne schläft einer."

Ich setzte mich. "Was gibt es noch? Kleinigkeiten vermögen mir nicht die Laune zu verderben."

"Das Zimmermädchen hat übers Wochenende frei. Sie müßten selber saubermachen." Ein Lachreiz packte mich. Sie steckte einen Lockenwickel fest. Das sei überhaupt nicht zum Lachen, meinte sie. Die Inhaber würden sich um das Hotel kaum kümmern. Sie zählten lediglich die Einnahmen. Ausschließlich Ausländer verkehrten im Haus. Japaner, Afrikaner. "Man hat Sie sicherlich für eine Ausländerin gehalten, als Sie bestellten."

Sie wollte gehen. Da fiel ihr etwas ein. "Wenn Sie die Toilette aufsuchen, müssen Sie den Abfallkorb innen vor die Tür stellen. Sie schließt nicht."

Etwa um 23 Uhr kehrte ich zurück. Die Etage hatte sich zum Hexenhaus gemausert. Kofferradios boten verschiedene Programme. Wütend kreischte der Papagei. Ich floh ins Zimmer. Hier dröhnte es ohrenbetäubender als im Flur. An der Kreuzung stauten sich Autos. Fuhren an. Die nächsten kamen. Ich stopfte Watte in die Ohren. Löste die Rätsel in zerfledderten Illustrierten.

Gegen 3 Uhr war zwar nicht die Kreuzung, jedoch die Etage verkehrsberuhigt. Aufatmend ging ich den Flur entlang. Auf dem Weg zur Toilette geriet ich mit einer Stechpalme in Nahkampfverwicklung. "Blödes Biest", zischte ich. Hierauf meldete sich der Papagei. Ein Hund begann zu kläffen. Entsetzt verdrückte ich mich in die Örtlichkeit. Knipste Licht an. Gleich einem Königsthron befand sich das WC auf einem Podest. Ein Korb mit zerschnittenen Zeitungen ersetzte die gebräuchliche Rolle. Ich betrachtete die Wasserspülung. Der Kasten saß an der Decke. Eine grüne Samtkordel hing herab. An ihrem Ende schwebte eine gelbe Schleife. Ich zog. Das Wasser toste durchs Rohr. Kein Zweifel, der Herberge nächtliche Ruhestörerin war ich.

Während des Rückzugs knarrte eine Tür. Der Hausgeist, jetzt ohne Lockenwickel, schaute heraus. Ein rotes Hemd umwallte den Körper.

"Können Sie nicht schlafen?"

"Pscht, der Papagei", warnte ich.

"Der soll den Schnabel halten. Ich werde uns Kaffee kochen. Mögen Sie? Es graut schon."

Ich breitete die Arme aus.

Hotelerlebnisse! Dickleibige Bücher ließen sich füllen. Doch ist der Gedanke mißlich, nach Erscheinen der Bände nur unter falschem Namen logieren zu können.