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10.05.03 / Helles Läuten

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 10. Mai 2003


Helles Läuten
von Heinz Glogau

Die Kirche, in der mich meine Patentante ein Vierteljahr nach meiner Geburt übers Taufbecken gehalten hatte, war ein besonderer Bau. Er hatte acht Ecken. Sonntags ertönte aus dem Dachaufbau eine Glocke, doch da wir einen Kilometer von der Kirche entfernt direkt am Bahnhof hausten, hörten wir ihr Getöne kaum. Schuld daran war aber nicht die Entfernung, sondern vielmehr der Wind, er kam selten aus Süd. Aber das wußte ich Dammelssack damals noch gar nicht.

Als wir ins ostpreußische Oberland in die Kreisstadt Mohrungen zogen, hatten wir eine Kirche gleich neben unserem Obstgarten. Sie stand zwei Steinwürfe vom Taubenschlag unseres unter uns wohnenden Nachbarn entfernt. Es war ein Rotziegelbau mit schlankem Turm. Ein Kirchturm war das eigentlich nicht. Man konnte in ihm keine Treppen hochtappen, wie in der alten, ehrwürdigen Ritterordenskirche, dem evangelischen Gotteshaus in der Johann-Gottfried-Herder-Straße. Die katho- lische Kirche zierte ein steiles Gemäuer, in dessen halber Höhe ein Glöckchen bammelte, von dem ein dünner Strick herabhing.

Am ersten Tag, an dem wir in Mohrungen im Schimmerlingweg wohnten, erschrak ich über das dünne, helle, bronzene Geschepper, das sich meinen Ohren ungewohnt aufzwang. Erbarmung! Doch mit der Zeit gewöhnte ich mich daran. Ich wußte, Alfreds und Georgs Mutter zog jeden Tag von Montag bis Sonntag um sechs Uhr früh, mittags um zwölf und abends um sechs an dem dünnen Seil und brachte das Glöcklein zum Schwingen, zusätzlich auch noch jeden Sonntagvormittag.

Als junger Grünschnabel habe ich damals nie darüber nachgegrübelt, wann eigentlich Alfreds und Georgs Mama bei dieser täglichen Glockenschwingerei einmal hätte ausschlafen können. Tagaus - tagein mußte sie um 5 Uhr 45 aus den Federn und zum anderen Ende des hohen Backsteinbaus schlorren und den Bimmelstrick ergrabschen. Der katholische Pfarrer konnte sich auf die hagere Frau verlassen, deren Mann in drei Schichten bei der Reichsbahn werkelte.

Im Frühjahr 1939 - vielleicht war es auch schon ein halbes Jahr zuvor - errichteten Bauarbeiter über der Kirchentür ein Gerüst und hingen eine richtige Glocke an Stelle der kleineren in den angedeuteten Glockenstuhl. Ehrlich gesagt, ich war skeptisch angesichts des schlanken Gemäuers, in dem nun eine richtige Kirchenglocke hing. Doch die Backsteinpfeiler hielten, und ein ehrwürdiger Klang zeigte die Morgen-, Mittags- und Abendstunden an und rief auch die Gläubigen zum Gottesdienst. Für die Glöcknerin hatte eine neue Ära begonnen, wenn sie auch zu denselben Zeiten zur Kirchentür eilen und das Seil ergreifen mußte, so war es doch für sie ein großer Unterschied zu den Jahren zuvor. Sie war stolz, alles war neu, das Seil war dicker und vor allem der dunkle Klang der neuen Glocke erfreute Herz und Ohr.

Doch dieses Glück währte nicht lange. Gefräßige Kanonen, Maschinengewehre und Karabiner schrien bald danach nach mehr Futter. Eines Tages stand wieder ein Gerüst an der katholischen Kirche. Die große Glocke verschwand, und die kleinere bimmelte wieder morgens um sechs, mittags um zwölf und abends um 18 Uhr.

Von Alfreds und Georgs Mutter hörte ich nichts. Sie preßte ihre Lippen fester als früher zusammen. Doch heute kann ich mir vorstellen, was sie wohl gefühlt haben mag, was sie ihrem Mann in dunkler Nacht wohl anvertraut hatte.

Mit Alfred und Georg spielte ich weiter um die Kirche Räuber und Gendarm. Wir machten weiter aus den Nischen der Kirchenmauern "päng-päng!" mit dem Mund, denn richtige Knallkorken für unsere Blechrevolver gab es schon lange nicht mehr. Pulver wurde für "größere Dinge" gebraucht, bis die Bimmelglocke schwieg, denn in Morag, dem heutigen Mohrungen, gibt es die dunkelrote Backsteinkirche nicht mehr.

Königsberg: Den Blick über den Pregel auf den Kneiphof malte Gerhard Hahn