19.04.2024

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07.06.03 / Mutterliebe und Kalorien

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 07. Juni 2003


Mutterliebe und Kalorien
Christel Bethke über eine ganz neu gewonnene Freiheit

Gerade als Liesbeth mit der Küche fertig ist, klingelt das Telefon. Thomas, der erwachsene Sohn, ist dran. Er sei gerade in der Nähe und wolle nach ihr sehen. Natürlich geht das, und ihre Gedanken sind schon bei dem, was sie ihm auftischen könnte, denn, so hört sie befriedigt, "gern" würde er noch etwas bei ihr essen. Also bis gleich, ungefähr eine gute halbe Stunde. "Bis dann ..."

Das Kotelett, das für morgen bestimmt war - als ob sie das geahnt hätte, hatte sie morgens zwei eingekauft -, in verschlagenem Ei gewälzt, paniert, langsam in der Pfanne knusprig gebraten, Kartoffeln geschält, aufgesetzt, das Glas Kürbis aufgemacht und die letzte gute Spreewälder Gurke rausgerückt. Tisch gedeckt für den Besucher. Mit tiefer Freude sieht Liesbeth ihm beim Essen zu - wie es dem Sohn wieder schmeckt! Kaffee dann im Wohnzimmer, wo wie immer noch von dem Gebäck ist, das alle Familienmitglieder lieben: eine Art Mürbegebäck, ohne das es nicht geht.

Also, der Mutter geht es gut, wie sich der Sohn überzeugen konnte, und während er den letzten Schluck Kaffee austrinkt und die Frage, ob er etwas von dem Gebäck mitnehmen möchte, bejaht, sagt er zur Mutter: "Deine Liebe äußert sich immer in Kalorien", umarmt sie und "Küßchen, Küßchen", und schon ist er aus der Tür.

Liesbeth muß schlucken. Was hat er da gesagt? Lag da nicht ein Vorwurf drin? Oder bildete sie sich das nur wieder ein? Denn Liesbeth war im Alter empfindlicher geworden und dachte mehr über alles nach. Auch kam die Vergangenheit oft hoch und gab zu denken. Sie wirft einen Blick in die wüste Küche und schließt die Tür. Erst mal hinsetzen. Sie ist verstimmt. Oh, nicht wieder diese Geschichte, daß das Leben schwer war mit seinen Forderungen, Kinder allein großziehen, ohne Mutterschaftsurlaub, ohne Kindergeld, ohne Pampers und ohne Waschmaschine ... Natürlich hätte sie gern mehr Zeit für ihre Kinder gehabt, sie auch in einem Schultertuch herumgetragen, doch die Verhältnisse? Die waren nicht so, wie es in einem Gedicht von Bertolt Brecht heißt. Nachkriegszeit, vaterlose Zeiten. Nein, die Verhältnisse waren nicht so gewesen. - Neulich hatte schon die Tochter geklagt, sie wäre zu wenig auf den Schoß genommen worden. Also müssen sie sich untereinander beredet haben.

Na, Schluß mit Kalorien, Schluß mit Küchen, die zum zigsten Mal aufgeräumt werden wollen. Dem kann abgeholfen werden! Den Spruch von Goethe, daß man den Morgen nicht beklagen solle, der Müh' und Arbeit bringt, weil es doch so schön ist zu sorgen, deshalb. Das hatte ihr schon immer gedämmert, daß Nahrung nicht nur aus leiblicher Kost bestand.

Zurück zu Thomas. Wie ungeschickt von ihm, denkt sie, oder sollte sie ihn falsch verstanden haben? Kalorien! Den Begriff hatten sie früher gar nicht gekannt. Für sie und ihre Generation galt doch, da, wo man zu essen bekam, wo das Licht im Dunkeln brannte, ein Feuer im Herd war, das Bett stand, wo jemand am Abend die Zudecke an den warmen Kachelofen hielt und sie rasch über einen breitete, da war doch Liebe, da war doch Geborgenheit, die ein Kind braucht. Na, und ganz klar gehören dazu auch Kalorien. Man wußte, wo man hingehörte, und war das nicht das Wichtigste im Leben schlechthin?

Liesbeth ist ganz verwirrt. Sie läßt Küche Küche sein, bindet sich die Schürze ab (auch darüber machten sie sich lustig, daß sie ohne Schürze nicht denkbar wäre) und wird zur Freundin gehen, ihr einen Vorschlag unterbreiten, der ihr schon seit einiger Zeit im Kopf herumspukt. In der Zeitung hatte vor einiger Zeit eine Anzeige gestanden "Pension in Masuren, direkt am See". 18 Euro sollte die Übernachtung mit Frühstück kosten. Der Wirt würde einen sogar vom Bahnhof in Allenstein abholen, hatte sie erfahren, als sie die Nummer gewählt hatte. Vielleicht sollten sie ihren Urlaub dort verbringen und sich die Kalorien des "erweiterten Frühstücks" selbst einverleiben?

Mal hören, was die Freundin dazu meint. Mehr als ein weites Feld haben sie da heute zu beackern! Liesbeths gute Laune kommt wieder, und sie freut sich auf einmal. Während sie mit dem Fahrstuhl nach unten fährt, summt sie: "Freiheit, die ich meine, die mein Herz begehrt ..."