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19.07.03 / Fussball in Wiskullen

© Das Ostpreußenblatt / Preußische Allgemeine Zeitung / Landsmannschaft Ostpreußen e.V. / 19. Juli 2003


Fussball in Wiskullen
von Heinz Kurt Kays

Fußball - natürlich ist auch in Masuren Fußball gespielt worden, mit großer Begeisterung sogar, mit viel Eifer und mit großem Ehrgeiz. Meist geschah das freilich mit eher bescheidenen Mitteln, auf holprigen Sandplätzen nämlich oder auf Wiesen mit normalem Grasbewuchs. Die Tore waren fast immer von zwei in die Erde eingegrabenen Stangen begrenzt, oft fehlte die eigentlich notwendige Querlatte. Was naturgemäß ständig zu Streitereien führte, wobei es darum ging, ob der Schuß "zu hoch" war oder als Treffer zählte.

Nun zum Ball, mit dem damals gespielt wurde. Wenn es hoch kam, bestand er aus einer grob genähten Lederhülle und barg im Inneren eine Gummiblase, der bisweilen die Luft ausging. Dann mußte diese geflickt werden, etwa wie ein Fahrradschlauch. Und mit Hilfe einer Luftpumpe wurde der Ball "aufge- blasen", damit er sich wieder rund und prall präsentieren konnte. Und Fußballschuhe mit Stollen und verstärkter Kappe waren völlig unbekannt, insbesondere in den masurischen Dörfern.

Hier trat man - und das galt nahezu für die gesamte Ortsjugend - nicht selten barfüßig gegen das runde Leder. War dieses besonders hart aufgepumpt, konnte es ziemlich schmerzhaft sein. Wer jemals einen Eckstoß mit dem "großen Onkel" ausgeführt hat, der weiß, wovon die Rede ist. Verstauchte, geschwollene oder blau angelaufene Zehen waren danach keineswegs selten. Ansonsten kam jedes Schuhwerk zum Einsatz, was man gerade besaß. All dies hat jedoch der Spielfreude keinen Abbruch getan.

Und welche Fußballtalente trotz solcher Widrigkeiten in jenem Teil Ostpreußens herangewachsen waren, zeigte sich zu Beginn der dreißiger Jahre in aller Deutlichkeit. Da wurde nämlich der F. C. Schalke 04 erstmals deutscher Meister. Und in dieser Mannschaft überwogen jene Spieler, deren Heimat im fernen Masuren lag. Sie waren zwar zumeist in Gelsenkirchen geboren, aber ihre Eltern sind nahezu ausnahmslos ins Ruhrgebiet eingewandert, um im dortigen Kohlebergbau ihr Auskommen zu finden.

Das galt zuvörderst für die beiden berühmtesten dieser Fußballer, für Fritz Szepan und für Ernst Kuzorra. Sie wurden mehrfache Nationalspieler und gelten als Erfinder und geniale Interpreten des legendären "Schalker Kreisels". Die Eltern von Fritz Szepan nun kamen aus dem Kreis Neidenburg. Der mit ihm verschwägerte Ernst Kuzorra wieder- um entstammte einer Familie, die aus dem Kreis Osterode zugewandert war. Weitere Mitglieder der damaligen Meistermannschaft hatten ihren Ursprung ebenfalls in Masuren, Otto Tibulski etwa, Adolf Urban, Ernst Kalwitzki und Rudolf Gellesch. Doch genug von diesen Schalker Fußballhelden, denn sie stehen hier nicht im Mittelpunkt der Geschichte. Die geht nämlich um das, was man als "masurische Dorfkickerei" bezeichnen könnte. Dabei wurde allein aus Spaß an der Freude hinter dem runden Leder hergerannt. Und man tat das ohne ein festgefügtes Regelwerk. "Abseits" war dazumal noch unbekannt, und gelbe oder rote Karten gab es auch nicht. Dafür galt unter an- derem diese Bestimmung: "Drei Ecken - ein Elfmeter!"

Natürlich - so nach und nach wurde auch hier manches geordnet und reglementiert. Das aber war zumeist dann der Fall, wenn es soweit gekommen war, daß Mannschaften aus zwei benachbarten Dörfern gegeneinander antraten. Selbstverständlich ging es dabei um nichts anderes als "die Ehre". Dennoch mußte einfach ein Schiedsrichter her, der das Spiel in einigermaßen vernünftige Bahnen zu lenken hatte.

So verlief diese Entwicklung zum Beispiel auch in Wiskullen und Dreieichen. Diese Orte waren im tiefsten Masuren gelegen und nur durch eine Distanz von gut zwei Kilometerchen voneinander getrennt. Hier gab es eine besonders fußballverrückte Jugend, und die traf sich - was schnell zu einer Tradition geworden war - zweimal im Jahr zum "edlen Wettstreit", wie so etwas ziemlich großspurig genannt wurde.

So edel ging es da freilich nicht jedesmal zu, und deshalb zeigte sich bald, daß "Schiedsrichtern" ein nicht nur schwieriges, sondern auch reichlich undankbares Geschäft darstellte. Denn nur recht selten stimmten die Dorfkicker mit den Entscheidungen des "Unpartei-ischen" überein. Das taten ebensowenig auch die Zuschauer, und dazu zählten jedesmal fast alle Einwohner, sowohl die aus Wiskullen als auch die aus Dreieichen. Eine unausweichliche Folge solchen Geschehens war, daß es nicht nur gelegentlich, sondern nahezu stets zu dem kam, was man als "Tumulte" oder "tätliche Auseinandersetzungen" zu bezeichnen hatte. Und die Folgen davon waren selbstverständlich körperliche Schäden, blutige Nasen etwa, auch zerschrammte Schienbeine oder angeschlagene Köpfe. Davon betroffen waren nicht nur die Spieler, sondern oft auch die Zuschauer.

Sozusagen im Zentrum des Orkans befand sich jedoch zumeist der Schiedsrichter. Denn eines der beiden Dörfer fühlte sich immer durch ihn benachteiligt - je nachdem, wie das Treffen ausgegangen war. Und so wurde auch auf den Stellmachergesellen Paul Tomuschat, der aus dem benachbarten Grabowo stammte, eine regelrechte Jagd veranstaltet. Dieser Tomuschat galt als eine Art Fachmann in Sachen Fußball und war deshalb zum Spielleiter bestimmt worden, als die Mannschaften aus Wiskullen und Dreieichen wieder einmal das gewohnte Derby austrugen.

Dieser Unparteiische hatte sich tatsächlich erfrecht, fünf Minutchen vor Ende der Begegnung einen Elfmeter gegen Wiskullen zu pfeifen. Und mit dem Strafstoß wurde der Sieg von Dreieichen besiegelt. Natürlich führte das auf der einen Seit zu großem Jubel, auf der anderen jedoch zu Protestgeschrei, dem ziemlich wilde Drohungen folgten. Als dann der Schiedsrichter Tomuschat auf sein Fahrrad stieg, um heimzu nach Grabowo zu trampeln, verstellte ihm eine aufgebrachte Meute die Chaussee. Aus deren Mitte erklangen überaus zornige Rufe, waren Beschimpfungen zu hören, und sogar ein paar wüste Flüche.

Der überraschte Stellmachergeselle fiel fast vom Rad, und sein Gesicht wurde alsbald schreckensbleich, denn er ahnte, was ihm bevorstehen konnte. Doch aus der aufgeregten Gruppe löste sich mit eins die Gestalt von Wilhelm Karnuß, den man kannte als Bürgermeister von Wiskullen. Und der gebot mit herrischer Gebärde Schweigen. Dann donnerte das Gemeindeoberhaupt los: "Warum nur, Paul Tomuschat, warum hast gegeben diesen Elfmeter für Dreieichen? Hast du nicht bekommen von mir ganze fünf Mark vor dem Spiel und hast dafür versprochen, daß ..."

"... daß ich werd pfeifen einen Strafstoß für Wiskullen, ich weiß", unterbrach ihn der Schiedsrichter. "Aber", so fuhr er fort, "ich konnte nicht. Denn vom August Pawellek, dem Bürgermeister von Dreieichen, hab' ich gekriegt zehn Mark!" Und ehe die aufgebrachte Rotte ihre Verblüffung überwunden hatte, war Paul Tomuschat auf seinen Draht-esel gestiegen und trat in die Pedale, als ob der Teufel hinter ihm her wäre.

Für das nächste Spiel mußte also ein anderer Schiedsrichter gesucht werden. Und man fand ihn in der Person des Landbriefträgers Herbert Kannenberg. Der mußte schon von Berufs wegen ein umgänglicher Mensch sein. Und es zeigte sich, daß man eine gute Wahl getroffen hatte. Denn in den nächsten drei oder vier Begegnungen zwischen Wiskullen und Dreieichen kam es zu keinerlei Auseinandersetzungen, wurde auch nicht die kleinste Handgreiflichkeit registriert.

Im Gegenteil, beide Dorfschaften zogen anschließend in den jeweils zuständigen Krug, wo sie schiedlich-friedlich beieinander saßen und sich mit einem Bierchen zuprosteten. Bei einer solchen Gelegenheit nun geschah es, daß Wilhelm Karnuß, der Bürgermeister von Wiskullen also, diese Frage an den Briefträger Kannenberg richtete: "Sag mal, Lieberchen, wie machst du das? Früher hat es ewig Stunk gegeben und Streiterei. Aber jetzt, wo du Schiedsrichter bist, sind alle zufrieden, und niemand regt sich auf."

Der fußballkundige Postbote blickte von seinem Bier auf, und ein verschmitztes Schmunzeln zog über sein Gesicht. "Ist ganz einfach, Wilhelm Karnuß", erwiderte er bedächtig, "man muß nur immer gerecht sein. Geb' ich vielleicht in der ersten Halbzeit einen Elfmeter für Dreieichen, kriegt Wiskullen nach der Pause auch einen. Und wird auf der einen Seite ein Torchen geschossen, na - dann sorg ich dafür, daß auf der anderen auch eins fällt. So wird alles schön gleichmäßig verteilt, und keiner verliert und keiner gewinnt, und alle sind zu-frieden."

Worauf der Herr Postrat sein Bier austrank, allerseits einen guten Abend wünschte und aus der Wirtsstube entschwand. Bürgermeister Karnuß und all die anderen Fußballfreunde - das Wort "Fans" war noch nicht erfunden - schauten ihm verdutzt hinterher. Dann begannen sie nachzurechnen und kamen zu dem Ergebnis, daß es stimmte, was dieser Mensch Kannenberg behauptet hatte: In allen von ihm geleiteten Spielen hatte es ein Unentschieden gegeben. Mal hatte das Ergebnis zwei zu zwei geheißen, mal vier zu vier, mal auch null zu null.

Das war - selbstredend - das Ende der Schiedsrichterkarriere des biederen Landbriefträgers. Denn es machte wenig Sinn, wenn immer nur ein Remis herauskam. Nein, es war wesentlich interessanter und unterhaltsamer, wenn ein Sieger bejubelt werden konnte und der Verlierer sich damit tröstete, beim nächsten Mal würde es bestimmt andersherum ausgehen. Und was machte es schon, wenn man sich gelegentlich in die Haare geriet? Das war schließlich überall so!

Als dann das nächste Derby zwischen den beiden masurischen Dörfern anstand, wollte man in dieser Hinsicht sicher gehen. "Man", das war insbesondere der Krugwirt Hermann Kowalski aus Wiskullen. Der nahm am Tag vor dem Spiel die "Jungs" seiner Mannschaft zur Seite und sprach also: "Morgen müssen wir gewinnen unbedingt. Das ist einfach Ehrensache. Also, für jedes Tor, welches ihr schießen tut, spendiere ich euch ein Fäßchen von meinem Bier!" Das war natürlich ein Ansporn sondergleichen. Aber, weiß der Kuckuck, wie das zuging, die Kunde davon drang umgehend ins Nachbardorf. Worauf Julius Dräger, der Krugwirt von Dreieichen, bei sich dachte: Was dieser Hermann Kowalski kann, kann ich all lange! Und er trat vor seine Kicker und sagte ihnen ebenfalls ein Fäßchen Bier für jedes gegen Wiskullen geschossene Tor zu.

Und das führte zu jenem denkwürdigen Fußballereignis, worüber geredet wurde in weiten Teilen des Landes Masuren. Und über das ebenso laut und viel gelacht wurde. Denn schon nach einem halben Stundchen stürmten Hermann Kowalski und Julius Dräger, die beiden Wirte, mit hochroten Köpfen auf das Spielfeld. Wo sie sich den Ball schnappten und mit diesem davonrannten, als sei der Teufel hinter ihnen her.

Damit aber war die Begegnung augenblicklich zu Ende. Denn ein zweiter Fußball stand nicht zur Verfügung. Im übrigen - das Spiel zwischen den Mannschaften von Wis-kullen und Dreieichen hatte zum Zeitpunkt des Abbruchs dreizehn zu zwölf gestanden ... n

Strafstoss für Dreieichen brachte das Fass beinahe zum Überlaufen

Schönes Ostpreußen: Holzablage auf dem Niedersee Foto: Bosk